Szene aus dem Film „Bones And All“
Metro Goldwyn Mayer Pictures/Yannis Drakoulidis
„Bones and All“

Verliebte Kannibalen plagt das Gewissen

Die Kannibalenromanze „Bones and All“ handelt vom Dasein an den Rändern der Gesellschaft: „Dune“-Superstar Timothee Chalamet und Newcomerin Taylor Russell spielen in Luca Guadagninos blutigem Roadmovie zwei jugendliche Außenseiter auf der Suche nach Akzeptanz.

Sie ist noch nicht lange an der Schule, lebt im Trailerpark, hat abgetragene Kleider und keine neuen Schulsachen. Maren (Taylor Russell) ist eine geborene Außenseiterin. Und dann lädt die Schönste der Klasse Maren zu sich nach Hause ein, gemeinsam mit den anderen Freundinnen, zum Herumblödeln und Musikhören. Klar schleicht sie sich da abends raus, ohne das Wissen ihres strengen Vaters. Mit ihrer neuen Freundin erlebt sie eine nie da gewesene Nähe und Innigkeit – bis das Undenkbare geschieht.

Erst nachdem sie panisch weggerannt ist und sich eilends das Blut abgewaschen hat, beginnt Maren allmählich zu dämmern, was passiert ist. Und erst als sie am nächsten Morgen allein, nur mit einer Straßenkarte und einer von ihrem Vater besprochenen Audiokassette als Erinnerung im Gepäck mit dem Bus losgefahren ist, wird ihr klar: Vermutlich wird ihr bald die Polizei auf den Fersen sein, denn sie ist mit einem Fluch geboren, der sie ihr Leben lang begleiten wird. Maren hat unbezwingbare Gier auf Menschenfleisch.

Szene aus dem Film „Bones And All“
Metro Goldwyn Mayer Pictures/Yannis Drakoulidis
Schülerin und Lehrmeister: Bei Sully (Mark Rylance) lernt Maren (Taylor Russell) viel über ihre Veranlagung

„Bones and All“ ist der erste Film des italienischen Regisseurs Guadagnino, den er in den USA gedreht hat. Das Roadmovie basiert auf dem Jugendfantasyroman „Bones & All“ von Camille DeAngelis, aus dem Guadagnino den Coming-of-Age-Kern herausschält: Maren macht sich auf die Suche nach ihrer Mutter, die sie nie gekannt hat, um mehr über sich selbst herauszufinden. Doch was sie dabei entdeckt, ist zunächst eine ganz andere, nicht weniger schockierende Wahrheit.

Kannibalen unter sich

Denn es gibt mehr Leute wie sie, geborene Menschenfresser, die diese Gier in sich nicht unterdrücken können. Der Umgang mit dem entsetzlichen Verlangen ist jeweils ganz verschieden: Da ist etwa der alte Sully (harmlos-gruselig von Schauspielikone Mark Rylance verkörpert), der aufrichtig versucht, mit seinen körperlichen Bedürfnissen auf ethisch saubere Weise umzugehen, was nicht unbedingt appetitlich ist. Er findet Maren allein durch seinen feinen jahrzehntelang trainierten Geruchssinn. An seiner Seite lernt das Mädchen viel über seine Veranlagung.

Doch es zieht Maren weiter auf ihrer Suche nach der Herkunft. In einem Supermarkt begegnet sie dem heruntergekommenen jungen Lee (Timothee Chalamet), der, offensichtlich von Selbsthass zerfressen, eine ganz andere Strategie für seinen Kannibalismus gefunden hat. Für Maren ist Lee, ein fast gleichaltriger Kannibale, eine Offenbarung. Und auch sie bedeutet für ihn mehr, als er ihr sagen kann: eine Person, die ihn so akzeptiert, wie er ist, ohne zu urteilen. Die ihn verstehen und ertragen kann. Doch noch muss Maren ihre Mutter finden.

Roadmovie mit ewigem Hunger

Das Dilemma der jugendlichen Kannibalen in „Bones and All“ erinnert an die skrupulösen Vampire in Stephenie Meyers „Twilight“-Buchserie, die sich mit dem Jagen von Wildtieren und mit künstlichen Blutkonserven behelfen. Hier ist die Sache weit weniger appetitlich, eine Mahlzeit von Teenager-Menschenfressern ist kein Kindergeburtstag. Guadagnino folgt damit einem Horrortrend zum Menschenfleisch, zu sehen etwa in „Raw“ (2016), dem Regiedebüt der späteren Goldene-Palme-Gewinnerin Julia Ducourneau („Titane“), wo eine junge Veganerin während des Veterinärmedizinstudiums ihre Fleischeslust entdeckt.

Szene aus dem Film „Bones And All“
Warner Bros. Picture
Unterwegs zu zweit: Lee (Chalamet) bringt Maren zu ihrer Mutter – ohne zu wissen, was dort auf sie wartet

In „Bones and All“ interpretiert Chalamet den Kannibalismus als Bild für Außenseitertum und den Umgang mit und das Leiden an Sucht, wie er im ORF.at-Gespräch sagte: „Ich kenne Menschen in New York, die drogensüchtig sind. Und im Laufe der Arbeit an diesem Film wurde für mich immer deutlicher, dass der Kannibalismus als starke Metapher für Sucht funktioniert. Dafür, mit etwas zu ringen, das sich anfühlt wie ein innerer Fluch. Und für das Gefühl, schmutzig und beschädigt zu sein.“

Die Unmöglichkeit von ethischem Konsum

Erst die Romanze im Film ist der Moment, der Lee seine Menschlichkeit wieder spüren lässt – Liebe als Gegengift, als einzige Droge, die hilft. Zugleich – und interpretativ fast noch naheliegender – lässt sich im Plot die Grundfrage erkennen, ob ethischer Konsum, speziell ethische Ernährung möglich ist. Die literarische Vorlage wurde von einer deklarierten Veganerin geschrieben.

„Auch wenn der Film nicht explizit von der Klimakatastrophe handelt, ist sie sehr relevant“, so Chalament dazu. „Denn es ist ja tatsächlich so: Wir können als Individuen die bescheidenste Existenz führen, was unseren Verbrauch betrifft, aber allein durch unsere Präsenz auf der Erde tragen wir trotzdem zum Dreck und zur Katastrophe bei.“ Aus dieser Perspektive gedacht sei es auch sehr spannend gewesen, im mittleren Westen der USA zu drehen, „wo die Regierungen ethischen Konsum, Ressourcenbewusstsein und Klimapolitik nicht unbedingt für wichtig halten. Und das ist der Landschaft auch anzusehen.“

Szene aus dem Film „Bones And All“
Metro Goldwyn Mayer Pictures/Yannis Drakoulidis
Auf Roadtrip mit Youngster-Kannibalen – und dahinter die Fragen nach Konsumverzicht und dem „Heilmittel“ Liebe

Das Drehen in vergifteten Landstrichen, mit einem europäischen Regisseur, der sich offensichtlich von Autoren wie Jack Kerouac und dessen literarischen und buchstäblichen Amerika-Durchquerungen inspirieren hatte lassen, trägt zur spukhaften, zugleich unendlich romantischen Atmosphäre des Films bei. „In diesen Gegenden gilt immer noch das traditionelle Glücksrittertum des ‚Going West‘ als Ideal, der Eroberungsgedanke, das Immer-mehr-immer-weiter. Genau das ist aber direkt verantwortlich für das Sterben des Planeten, das wir schon jetzt beobachten können. Der Zusammenbruch der Gesellschaft, wie wir sie kennen, liegt in Amerika in der Luft.“

Space-Prinz und Straßenkönig

Für Chalamet ist „Bones and All“ eine Rückkehr zu seinem Entdecker: Guadagnino war mitverantwortlich für den Hype um den mittlerweile 25-Jährigen, der durch Rollen wie in der Space-Oper „Dune“ zum Superstar geworden ist. In Guadagninos sonnendurchglühter Romanze „Call Me By Your Name“ spielte er 2017 einen Schüler, der sich rettungslos in einen Studenten seines Vaters verliebt. „Aber ganz ehrlich, für mich fühlt sich dieser neue Film genauso zärtlich an wie damals, und genauso nach einem Film über die Sehnsucht nach Liebe“, so Chalamet.

Nach der Weltpremiere in Venedig wurden Guadagnino mit dem Löwen für die beste Regie und Hauptdarstellerin Russell, deren erste Kinorolle in dem Drama „Waves“ (2019) schon eindrucksvoll gewesen war, mit dem Mastroianni-Preis als beste Schauspiel-Newcomerin ausgezeichnet. Begehren, Einsamkeit und Außenseitertum sind Fragen, die offenbar nicht nur Teenager beschäftigen.