Ein Mann blicke auf Kiew
APA/AFP/Bulent Kilic
Nach neuem Beschuss

Kiew großteils weiter ohne Strom

Nach neuen schweren russischen Raketenangriffen wird in der Ukraine unter starkem Zeitdruck versucht, die umfassend getroffene Energieversorgung des Landes wiederherzustellen. Das Präsidialamt in Kiew meldete am späten Mittwochabend erste Erfolge: In 15 Gebieten gebe es teilweise wieder Strom, teilte Vizechef Kyrylo Tymoschenko mit. In der Hauptstadt Kiew konnte die Strom- und Wasserversorgung erst teilweise wiederhergestellt werden.

„70 Prozent der Hauptstadt sind ohne Elektrizität“, teilte Bürgermeister Witali Klitschko am Donnerstag in seinem Telegram-Kanal mit. Immerhin sei es gelungen, die Stadtteile am linken Flussufer des Dnipro wieder mit Wasser zu versorgen. Die kommunalen Dienste arbeiteten mit Hochdruck an der Behebung der Schäden, doch die Stromversorgung Kiews hänge auch von der Stabilität des gesamten Energiesystems in der Ukraine ab.

Journalisten berichteten, sie hätten die Stadt noch nie so finster gesehen. Die Verwaltung der Drei-Millionen-Einwohner-Metropole wollte handbetriebene Sirenen und Lautsprecher einsetzen, um in Stadtteilen ohne Strom vor möglichen weiteren Luftangriffen zu warnen. „In Kiew ist die Lage schwierig“, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj.

Kiew in der Nacht ohne Strom
AP/Andrew Kravchenko
Nächtlicher Blick auf Kiew – ein überwiegender Teil der Menschen muss ohne Strom und Wasser leben

AKWs wieder ans Netz gegangen

Die drei am Mittwoch vom Netz genommenen Atomkraftwerke sind wieder ans Netz gegangen. Es sei gelungen, die drei von der Ukraine kontrollierten Anlagen in der Früh wieder anzuschließen, teilte das ukrainische Energieministerium am Donnerstag im Onlinedienst Telegram mit. Die AKWs dürften demnach ab dem Abend wieder Strom liefern. „Die Lage ist im ganzen Land schwierig“, sagte er im Fernsehen. Sie dürfte sich im Laufe des Tages schrittweise wieder etwas verbessern.

Russland hatte am Mittwoch etwa 70 Raketen und Drohnen auf die Ukraine abgeschossen. Zwar wurden nach Luftwaffenangaben 51 Raketen und fünf Drohnen abgefangen. Doch die übrigen Geschoße töteten zehn Menschen und richteten zum wiederholten Mal schwere Schäden an. Es kam zu großflächigen Blackouts.

Selenskyj: „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“

„Die Besatzer tun alles, damit Menschen leiden, damit wir einander nicht einmal fühlen oder sehen“, sagte Präsident Selenskyj in seiner abendlichen Videoansprache. Er wurde zudem zu einer Dringlichkeitssitzung des UNO-Sicherheitsrates in New York zugeschaltet und bezeichnete die Angriffe auf das Stromnetz als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Moskau solle als „terroristischer Staat“ verurteilt werden. Das Treffen des Rates war zuvor nach Selenskyjs Forderung kurzfristig auf die Agenda gesetzt worden.

Bis zum Abend seien landesweit 2.750 Notfallanlaufstellen in Betrieb gegangen, in denen es Heizung, Licht, Wasser, Internet und Telefon für Bürgerinnen und Bürger gibt. Mehr als 4.000 solcher „Stabilitätspunkte“ in Schulen und Verwaltungsgebäuden seien landesweit bereits vorbereitet, hieß es am Vortag. Weitere sollten folgen.

Macron will wieder mit Putin reden

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bezeichnete die Angriffe auf Strom- und Wasserversorgung als Kriegsverbrechen, die Konsequenzen haben müssten. Gleichzeitig kündigte Macron an, dass er demnächst wieder Kontakt zu Russlands Präsident Wladimir Putin aufnehmen wolle. Auch die USA und Deutschland verurteilten die Angriffe. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz forderte Putin auf, seine Truppen abzuziehen und in Friedensgespräche mit der Ukraine einzuwilligen.

Im UNO-Sicherheitsrat hatte die UNO-Beauftragte für politische Angelegenheiten, Rosemary DiCarlo, die Angriffe auf die kritische Infrastruktur scharf verurteilt. Solche Angriffe seien nach internationalem Menschenrechtsgesetzen untersagt, und bei Verstößen dagegen müssten die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.

Russland: Kiew soll „realistische Haltung“ einnehmen

Russland werde das militärische Potenzial der Ukraine weiter dezimieren, bis Kiew eine „realistische Haltung“ zu Verhandlungen einnehme, sagte der Moskauer UNO-Botschafter Wassili Nebensja im Sicherheitsrat. Die Angriffe auf die Infrastruktur seien die Antwort „auf das Vollpumpen des Landes mit westlichen Waffen und die unklugen Aufrufe, Kiew solle einen militärischen Sieg über Russland erringen“. Die Ukraine strebt an, russische Truppen aus allen besetzten Gebieten zu vertreiben.

Auf einem Verteidigungsgipfel früherer Sowjetrepubliken forderte der kasachische Präsident Kassym-Schomart Tokajew einen Friedensschluss. „Was die Ukraine betrifft, glaube ich, dass die Zeit für eine kollektive Suche nach einer Friedensformel gekommen ist“, sagte Tokajew beim Gipfeltreffen der von Russland dominierten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS).