Slowenischer Grenzpolizist kontrolliert Reisepässe
Reuters/Antonio Bronic
Heimische Innenpolitik in Brüssel

Österreichs einsame Schengen-Debatte

Die von der EU-Kommission gewünschte Schengen-Erweiterung um Kroatien, Bulgarien und Rumänien hat vor allem in Österreichs Politik hohe Wellen geschlagen. Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) hält daran fest, dass das Schengen-System nicht funktioniere, und positioniert sich damit gegen Brüssel. Doch momentan steht Österreich mit dieser Haltung fast alleine da. Dabei werde Schengen zum „Sündenbock“ für die „nicht funktionierende“ Asylpolitik der EU gemacht, so eine Expertin.

Erst drohte Karner mit einem Veto gegen den Beitritt der drei Länder, dann sagte Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP), dass man lediglich einen Betritt Bulgariens und Rumäniens ablehne. Der Kanzler bezeichnete die europäischen Außengrenzen als „mangelhaft oder nicht geschützt“, während der „Grenzschutz nach innen weniger werden soll“, so Nehammer. „So wird die Schengen-Erweiterung nicht stattfinden können.“

Auch wenn die Erweiterung nicht auf der Tagesordnung beim Treffen der Innenministerinnen und -minister am Freitag in Brüssel stand, war Schengen zumindest im Hintergrund Thema. Karner wiederholte, „dass ich es für Österreich nicht für sinnvoll halte, dass man ein System, das nicht funktioniert – und Schengen funktioniert nicht, ist funktionslos – derzeit noch zu vergrößern“.

Karner fordert „Zurückweisungsrichtlinie“

Der EU legte er fünf Forderungen vor, darunter eine „Zurückweisungsrichtlinie“, mit der die Einzelfallprüfung verhindert werden soll – für Menschen aus jenen Ländern, die keine Chance auf Asyl hätten, wie Karner sagte. Details gibt es noch keine, Rechtsexperten sehen den Vorschlag aber skeptisch und sprachen am Freitag im Vorfeld von einem „Aushebeln“ des Asylrechts, wie es im Ö1-Mittagsjournal hieß.

Innenminister Gerhard Karner
APA/AFP/Michal Cizek
Innenminister Karner hält momentan nichts von einer Schengen-Erweiterung

Und Karner wiederholte, dass 40 Prozent der Menschen über die Balkan-Route nach Österreich kämen, und forderte konkrete Maßnahmen. Darauf angesprochen, ob man die Zustimmung zur Schengen-Erweiterung etwa an die dortige Situation knüpfen wolle, sagte Karner lediglich, dass er sich „aus jetziger Sicht“ die Erweiterung nicht vorstellen könne. Ein Beschluss muss allerdings einstimmig gefällt werden.

In erster Linie innenpolitische Debatte

In erster Linie ist die Schengen-Debatte aber momentan eine der österreichischen Innenpolitik, wie auch Helena Hahn vom Brüsseler Thinktank EPC gegenüber ORF.at sagt. „Bisher hat sich tatsächlich kaum ein anderes Land so explizit zum Thema geäußert, allerdings ist bis zum 8. Dezember, an dem der Beschluss finalisiert werden soll, noch etwas Zeit.“

Karners Aussagen zeigten, „dass es derzeit keine einheitliche Linie innerhalb der ÖVP gibt, was Asyl- und Migrationspolitik angeht. Einerseits wird für stärkeren Außengrenzschutz plädiert, dann für die Einschränkung von Asyl, dann für ein Überdenken der Europäischen Menschrechtskonvention, und in Sachen Schengen-Erweiterung sind sich Europaministerin (Karoline, Anm.) Edtstadler (ÖVP, Anm.) und Innenminister Karner auch uneins, wie es scheint.“

ÖVP will „Stärkefeld wiederbeleben“

Klar ist: Die ÖVP nimmt sich der Themen Schengen, Asyl und Migration wieder stärker an – und positioniert sich damit automatisch auch gegen die Brüsseler Politik. Laut Politikberater Thomas Hofer versucht die ÖVP, ihr „Stärkefeld aus den Jahren 2017 bis 2019 wiederzubeleben“, wie er zuletzt im Gespräch mit ORF.at sagte. Die ÖVP wolle das Feld nicht mehr der FPÖ alleine überlassen, doch ehemalige „Pendelwähler“, die damals ÖVP gewählt hätten, würden nun vermehrt zur FPÖ tendieren.

Schon Ende Jänner steht die niederösterreichische Landtagswahl an. Sie ist auch für die Bundes-ÖVP, die in Umfragen derzeit schlecht liegt, von großer Bedeutung. Das Zurückgreifen auf das Thema Asyl sehen Beobachterinnen und Beobachter genauso in diesem Zusammenhang wie die jüngste Personalentscheidung in der ÖVP-Zentrale, nämlich den für den medialen Auftritt von Ex-Kanzler Sebastian Kurz verantwortlichen Gerald Fleischmann zum Kommunikationschef zu machen. Gegen ihn wird von der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) in der Umfragenaffäre ermittelt. Es gilt die Unschuldsvermutung.

SPÖ bei Schengen zurückhaltend, Kritik von FPÖ und NEOS

Längst haben sich auch andere Parteien zu Wort gemeldet: SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner sagte, der Zeitpunkt für die Erweiterung „ist definitiv kein glücklicher und nicht der richtige“. Sie verwies gegenüber ATV darauf, dass die irreguläre Migration nach Österreich in den vergangenen Monaten „extrem gestiegen“ sei, „der Außengrenzschutz nicht funktioniert und die Kontrollen nicht funktionieren“. Das Thema Asyl und Zuwanderung ist in der SPÖ seit Jahren höchst umstritten und führt immer wieder zu parteiinternem Streit. Insbesondere der burgenländische Landeshauptmann Hans Peter Doskozil drängt regelmäßig auch öffentlich auf eine schärfere Linie.

Die NEOS-Sprecherin für Inneres, Stephanie Krisper, sagte diese Woche, dass „die ÖVP endlich ihren Widerstand gegen europäische Lösungen aufgeben“ sollte. Die FPÖ sprach unterdessen von „Scheindebatten innerhalb der ÖVP“, die „angesichts der Asylflut, mit der wir konfrontiert sind, eine Zumutung für Österreich“ seien.

Schengen-Raum

1985 wurde im Luxemburger Ort Schengen das Abkommen für die Abschaffung der Grenzkontrollen in Europa unterzeichnet. Das Prinzip lautet: Kontrollen zwischen den Mitgliedsstaaten werden aufgehoben, dafür wird die Kontrolle der Außengrenzen verstärkt. Mittlerweile traten 26 Staaten Schengen bei.

Kritik vom Koalitionspartner

Kritisch sieht die ÖVP-Position auch der eigene Koalitionspartner: Gegen ein Veto sprach sich am Freitag Grünen-Chef Werner Kogler aus. „Österreich unterstützt bis heute offiziell, dass neben Kroatien auch Rumänien und Bulgarien dem Schengen-Raum beitreten sollen“, so Kogler in der „Tiroler Tageszeitung“ (Freitag-Ausgabe). Er habe dem Innenminister auch gesagt, dass der kleinere Koalitionspartner dessen Linie nicht unterstützt, so Kogler weiter. „Umgekehrt muss man auch sagen, wenn eine Schengen-Grenze existiert, muss dort auch kontrolliert werden.“

Manche Staaten äußern Bedenken

Ganz unumstritten ist die angedachte Schengen-Erweiterung auf europäischer Ebene dennoch nicht. „Die Niederlande haben sich auch skeptisch geäußert in Bezug auf Rumänien und Bulgarien, unter anderem wegen der dortigen Korruption“, so Hahn. Und Slowenien stellte in den Raum, jederzeit Binnengrenzkontrollen einzuführen, „aus Angst, dass ein erweiterter Schengen-Raum mit Kroatien und Grenzkontrollen vonseiten Österreichs dazu führen würde, dass Flüchtlinge sowie Migrantinnen und Migranten in Slowenien ‚stecken‘ bleiben würden“.

Skandinavische Länder sähen unterdessen „ähnlich wie Österreich schon lange ein Problem bei der ‚sekundären Migration‘, das heißt Menschen, die in ein anderes EU-Land reisen als das Land, in dem sie registriert wurden, wie von der Dublin-III-Verordnung vorausgesetzt“, so die Expertin. „Skandinavische Länder befürchten womöglich einen ‚Dominoeffekt‘, während Slowenien nicht mit den Problemen, wie sie Österreich schon hat, konfrontiert sein will.“

Auch Auswirkungen auf Wirtschaft und Tourismus

Doch Hahn weist darauf hin, dass in der Schengen-Debatte einige Themen vermischt werden: „Das ist ein zentrales Problem in der ganzen Debatte. Schengen wird hier zu einem Sündenbock gemacht, wobei die Ursachen zum Teil im nicht funktionierenden Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS, Anm.) liegen.“

Analyse des Treffens der EU-Innenminister

Brüssel-Korrespondent Robert Zikmund spricht über das Treffen der EU-Innenminister – auch Schengen wird eine Rolle spielen, wenn auch nicht offiziell.

„Schengen betrifft ja nicht nur Flüchtlinge sowie Migrantinnen und Migranten, sondern alle Menschen, die im Schengen-Raum leben“, so Hahn. Sie weist etwa auf Wirtschaft und Tourismus hin, die von Schengen profitieren würden. Asylfragen könnten „außerdem nicht durch Grenzschutz gelöst werden“, stattdessen verweist sie etwa auf die „Investition in nationale Asylsysteme“ und ein „Commitment zur Genfer Flüchtlingskonvention“ auf politischer Ebene.

Folgen der Pandemie immer noch spürbar

Trotzdem gebe es bei Schengen freilich Probleme, so Hahn. Derzeit funktioniere Schengen „nicht ganz, wie es sollte“. Die Schengen-Zone „und die Rechte, die damit einhergehen, haben nicht zuletzt aufgrund der Pandemie gelitten. Zudem kommt die wiederholte Einführung von Binnengrenzkontrollen, die ja rechtlich gesehen zeitlich begrenzt sind, aber gerne erneuert werden aus Terrorismus-, Sicherheits- oder Migrationsdruckgründen“, so Hahn. „Und das, obwohl die Kommission Mahnungen geäußert hat, jedoch keine Vertragsverletzungsverfahren begonnen hat und der Europäische Gerichtshof sich gegen diese Praxis geäußert hat.“

Luxemburg kritisiert Österreich

Kritisiert wurde Österreichs Haltung am Freitag von Luxemburg: Der luxemburgische Außen- und Migrationsminister, Jean Asselborn, sprach sich dagegen aus, Bulgarien und Rumänien nicht in den Schengen-Raum aufzunehmen. „Die Kommission hat positiv geantwortet auf die drei Länder“, sagte er. „Wir können jetzt nicht sagen, wir nehmen nur ein Land.“ Er sei mit Österreich in diesem Punkt nicht einverstanden, „die Balkan-Route ist ein anderes Problem“. Und auch die EU-Kommission lässt auf Nachfrage wissen: Jetzt sei ein „wichtiger Moment“, die Mitgliedsstaaten sollten die Aufnahme Bulgariens, Rumäniens und Kroatiens in den Schengen-Raum „voll unterstützen“, diese Länder erfüllen „alle Kriterien“, so eine Sprecherin.