Tunnel in Tallinn, Estland
IMAGO/PantherMedia/Sergio Delle Vedove
Angst vor russischen Angriffen

Estland auf schwieriger Bunkersuche

Öffentliche Gebäude, Schulen, Shoppingcenter – aus Angst vor russischen Angriffen ist die Regierung in Estland laut einem Medienbericht derzeit auf verzweifelter Suche nach Orten, die im Fall der Fälle Schutz bieten könnten. Schließlich wolle man selbst auf das Schlimmste vorbereitet sein, so der Tenor. Die Gefahr einer direkten militärischen Bedrohung bestehe laut Regierung derzeit aber nicht.

Seit Juni seien Dutzende von bunten Schildern – blaue Dreiecke auf orangefarbenem Hintergrund – aufgetaucht, um öffentliche Schutzräume zu kennzeichnen, schrieb „Bloomberg“ in einem Artikel am Donnerstag. Auf der Website der Regierungsbehörde Estonian Rescue Board heißt es, man werde in diesem und dem kommenden Jahr in den größeren Städten des Landes die öffentlichen Schutzräume kennzeichnen.

Und weiter: „Ein Schutzraum kann im Falle einer militärischen Bedrohung, aber auch bei anderen Bedrohungen wie extremen Witterungsbedingungen, Großbränden, chemischen Angriffen, Massenunruhen usw. erforderlich sein.“ Gelistet werden derzeit rund 80 Bunker in fünf Städten, zwei Landkreisen und einer Insel.

Hinweistafel für einen Schutzbunker
Estonia Rescue Board
Avalik Varjumiskoht, estnisch für „öffentlicher Unterschlupf“, gedacht für alle Personen, „die im Falle einer Gefahr Hilfe benötigen“, so das Estonian Rescue Board

Vernachlässigte Bunkerinfrastruktur

„Vor zehn Jahren war die vorherrschende Meinung, dass es keine konventionellen Gefechte und keine Raketen mehr geben würde“, wurde Estlands Innenminister Lauri Läänemets bei „Bloomberg“ zitiert. Doch: „Nur weil es heute keinen Krieg mehr gibt, heißt das nicht, dass wir uns nicht auf das Schlimmste vorbereiten müssen.“

Läänemets zufolge habe Estland seine Bunkerinfrastruktur über die vergangenen dreißig Jahre stark vernachlässigt. Um Wohnhäuser mit einfachen Schutzräumen auszustatten, werde es einige Jahre dauern – und um ein Netz von hochsicheren, zweckmäßig errichteten Schutzräumen zu bauen, werde es überhaupt Jahrzehnte brauchen.

Karte von Estland und den umgebenden Staaten
Grafik: Map Resources/ORF.at

Festung aus 17. Jahrhundert als Joker

Zugute komme dem Land mit seinen 1,2 Millionen Einwohnern und Einwohnerinnen ein Tunnelsystem unter einer Festung aus dem 17. Jahrhundert in der Stadt Narva an der Grenze zu Russland. „Die Festung, die genutzt wurde, als sowjetische Flugzeuge die Stadt im Zweiten Weltkrieg wiederholt bombardierten, könne Hunderten von Menschen Schutz bieten“, hieß es bei „Bloomberg“.

Ein Teil der Planung der Schutzräume in Estland sei auch von einem Besuch in Finnland geprägt worden. Baltische und polnische Innenminister hätten sich im Oktober getroffen, um sich über Sicherheitskonzepte auszutauschen. In Finnland etwa habe die Modernisierung von mehr als 50.000 Zivilschutzbunkern, die in den vergangenen acht Jahrzehnten errichtet wurden, bereits begonnen.

Hermannsfeste in Estland
IMAGO/Exopixel
Das Tunnelsystem unter der mittelalterliche Festung in Narva könnte Hunderten Schutz bieten

EU-weite Diskussion über Zivilschutz gefordert

Anfang November riefen die Innenminister der baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen die EU-Kommission zudem dazu auf, eine Diskussion über die Stärkung der zivilen Sicherheit einzuleiten. Die Innenminister verwiesen auf die Bedeutung einer angemessenen Vorbereitung auf potenzielle chemische, biologische, radiologische und nukleare Bedrohungen und Unfälle.

Deren Folgen könnten sich über die Grenzen einzelner Staaten hinaus ausbreiten und Auswirkungen für ganze Regionen und sogar ganz Europa haben. Auch sollten angesichts des Ukraine-Krieges das öffentliche Bewusstsein und Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung verbessert und gemeinsame Zivilschutzübungen diskutiert werden.

Premierministerin von Estland Kaja Kallas
AP/Leon Neal
„Ein Anschlag auf ein NATO-Land ist ein Anschlag auf alle. Deswegen fühlen wir uns nicht bedroht“, so die estnische Premierministerin Kaja Kallas

Verweis auf NATO-Partnerschaft

Dennoch habe die estnische Regierung in der Vergangenheit wiederholt betont, dass der Kreml derzeit keine direkte Bedrohung darstelle. Zudem würde die NATO-Partnerschaft eine starke Sicherheitsgarantie bieten.

Die estnische Premierministerin Kaja Kallas sagte dazu im Juni im Interview mit dem ORF etwa: „Wir sind Teil der NATO, und Artikel fünf besagt: Ein Anschlag auf ein NATO-Land ist ein Anschlag auf alle. Deswegen fühlen wir uns nicht bedroht.“ Auch nach dem Raketeneinschlag in Polen zeigte sich Kallas um Beschwichtigung bemüht.

Die Öffentlichkeit scheint allerdings nicht recht überzeugt davon. Laut einer von der Regierung in Auftrag gegebenen Umfrage hielte fast ein Drittel der Bevölkerung einen militärischen Angriff eines fremden Landes auf ein strategisches Ziel in Estland für wahrscheinlich. Ob die neuen Bunkermarkierungen das subjektive Sicherheitsgefühl stärken oder im Gegenteil eher schwächen, bleibt dabei wohl fraglich.