Zerstörtes Umspannwerk in der Ukraine
APA/AFP/Genya Savilov
Angriffe auf Infrastruktur

Moskau bricht wohl Völkerrecht

Seit Anfang Oktober nimmt Russlands Militär die Energieinfrastruktur der Ukraine ins Visier. Die Folgen der Angriffe für die Zivilbevölkerung sind verheerend – und bewegen sich im Bereich des Völkerrechtsbruchs, wie zwei Rechtsexperten gegenüber ORF.at betonen. Sollte es zu einer gerichtlichen Aufarbeitung der Attacken kommen, könnten der russischen Staatsführung zumindest theoretisch scharfe Konsequenzen drohen.

Die ukrainische Bevölkerung steht vor einem harten Winter. Mit Drohnen und Raketen greift Russland seit eineinhalb Monaten Kraftwerke, Umspannwerke und die Wasserinfrastruktur an. In Hunderttausenden Haushalten fielen zumindest zwischenzeitlich Strom, Heizung und Wasser aus. „Das Ausmaß der Zerstörungen ist kolossal“, sagte der Leiter des Energiekonzerns Ukrenerho, Wolodymyr Kudryskyj. Die Reparaturen sind aufwendig und kostspielig, die EU-Kommission hat Kiew bereits 2,5 Mrd. Euro an Hilfsgeldern überwiesen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verurteilte die Angriffe und sprach vor dem UNO-Sicherheitsrat von offenkundigen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Wenn von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ die Rede ist, müsse man zwischen der politischen und der rechtlichen Dimension unterscheiden, sagt der Völkerrechtler Ralph Janik von der Sigmund-Freud-Privatuniversität gegenüber ORF.at. Rechtlich ist der Begriff als bestimmte Handlungen wie Mord oder die „gezielte Vernichtung“ im Zusammenhang mit einem „gezielten oder systematischen Angriff auf die Zivilbevölkerung“ definiert.

Die russischen Attacken können grundsätzlich in diesen Bereich fallen, so Janik. Üblicherweise werde der Begriff zwar mit gezielten Angriffen, bei denen Zivilpersonen unmittelbar getötet werden, assoziiert, so der Jurist, „wenn man aber die Infrastruktur großflächig zerstört und die Menschen erfrieren oder die Energieversorgung in Spitälern zusammenbricht, muss man sich fragen, ob man den Tatbestand nicht auch hier anwendet“.

„Systematischer Angriff“ gegen die Zivilbevölkerung

Der Grazer Rechtsprofessor Wolfgang Benedek leitete im Frühjahr eine Kommission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die die Menschenrechtslage im Kriegsgebiet unter die Lupe nahm. Gegenüber ORF.at verweist er auf Artikel sieben, Paragraf elf des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH). Dort ist ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ definiert als „andere unmenschliche Handlungen ähnlicher Art, mit denen vorsätzlich große Leiden oder eine schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der geistigen oder körperlichen Gesundheit verursacht werden“.

Stromausfall in Kiew
Reuters
Die russischen Angriffe verursachten großflächige Stromausfälle in der Ukraine

Im rechtlichen Sinne wichtig ist hier laut Benedek, „dass es sich um einen ‚ausgedehnten und systematischen Angriff gegen die Zivilbevölkerung‘ handelt“. Das könne man im Fall der russischen Angriffe auf kritische Infrastruktur in der Ukraine „durchaus feststellen“, hielt Benedek in einem schriftlichen Statement an ORF.at fest.

Verhältnismäßigkeit nicht gegeben

In der Genfer Konvention, in der zum Schutz der Zivilbevölkerung Regeln für bewaffnete Konflikte festgelegt sind, findet sich kein grundsätzliches Verbot von Angriffen auf die zivile Infrastruktur, da diese auch dem Militär nützen kann. Allerdings gelte auch „im Kriegsvölkerrecht der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wonach der Einsatz militärischer Mittel dem Zweck entsprechen muss“, erklärt Benedek.

„Unnötige Leiden sind auch aufgrund des Grundsatzes der Vorsicht, der zivile Opfer so gering wie möglich halten soll, zu vermeiden.“ Infrastruktur dürfe nur angegriffen werden, „wenn es sich um ein militärisches Ziel handelt, etwa die Stromversorgung einer Kaserne“, so Benedek, der scharfe Kritik an Moskaus Kriegsführung übt: „Diese Grundsätze werden von Russland, das anfangs noch behauptet hat, keine zivilen Ziele anzugreifen, gröblichst missachtet.“

Frage der Gerichtsbarkeit

Die Frage, wie die für Russland handelnden Personen zur Verantwortung gezogen werden könnten, sei komplex, so Benedek. Die ukrainischen Behörden haben nach eigenen Angaben bisher über 45.000 Kriegsverbrechen registriert. Die Ukraine und Polen wollen ein Sondertribunal „für das Verbrechen der Aggression“ einrichten, das aber noch viele Fragen aufwerfe, so Benedek.

Bereits tätig geworden ist der IStGH. Dort werden unter Mithilfe ukrainischer, litauischer und polnischer Behörden sowie der EU-Justizagentur Eurojust Anklagen vorbereitet. Russische Kriegsverbrecher könnten nach Ansicht von IStGH-Chefankläger Karim Khan an das in Den Haag ansässige Gericht ausgeliefert werden, auch wenn Russland kein Vertragsstaat des IStGH sei.

Grafik zu den russischen Angriffen auf die Energieversorgung in der Ukraine
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: ISW/IEA/ENTSO-E/liveuamap

Unabhängig davon spielt Immunität dort keine Rolle, sagt Janik. Artikel 27 des Römischen Statuts des IStGH besagt, dass auch das Amt des Staats- und Regierungschefs eine Person nicht der strafrechtlichen Verantwortung enthebt oder einen Strafmilderungsgrund darstellt.

Mögliche Konsequenzen

Eine Verurteilung könnte auch in diesem Fall für hohe Vertreter der russischen Führung Konsequenzen haben – zumindest theoretisch. Staatschef Wladimir Putin, Premier Michail Mischustin und Außenminister Sergej Lawrow könnten lebenslange Haftstrafen bekommen.

Außerdem würde deren Reisefreiheit schon davor eingeschränkt: „Wird ein Haftbefehl ausgestellt, könnte etwa Präsident Putin in kein einziges europäische Land mehr reisen, ohne eine Festnahme fürchten zu müssen“, so Janik. Ob es aber tatsächlich zu so einem Prozess kommt, ist mehr als ungewiss.

Debatte über finanzielle Wiedergutmachung

Eine Debatte ist auch über finanzielle Entschädigung für die angerichteten Kriegsschäden entbrannt. Die ukrainische Regierung bezifferte die Schadenssumme Mitte September, noch vor den Angriffen auf die Energieinfrastruktur, bereits auf über 320 Mrd. Euro.

Mitte November verabschiedete die UNO-Generalversammlung eine Resolution, in der Moskau zu Reparationszahlungen aufgefordert wird. Als erster Schritt sei darin die Einrichtung eines Registers zur Erfassung dieser Schäden vorgesehen, erläutert Benedek. Moskau hat das Dokument als „rechtlich unbedeutend“ zurückgewiesen.