Schriftsteller Hans-Magnus Enzensberger
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1929–2022

Hans Magnus Enzensberger ist tot

Der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger ist tot. Er starb am Donnerstag im Alter von 93 Jahren in München, wie die Verlage Suhrkamp und Hanser am Freitag mitteilten. Der Lyriker, Essayist, Biograf, Herausgeber, Übersetzer und Redakteur war neben Günter Grass, Martin Walser, Christa Wolf und Heinrich Böll einer der prägenden Autoren der deutschen Nachkriegsliteratur.

Am 11. November 1929 wurde Enzensberger in Kaufbeuren im Allgäu geboren. Seine Kindheit verbrachte er in Nürnberg, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges betrieb er Schwarzhandel, um seine Familie zu ernähren, dolmetschte für die US-amerikanischen und britischen Besatzer und machte schließlich 1949 Abitur in Nördlingen. Im Studium ging er nach Paris.

Von seiner Heimat war er desillusioniert. Das viergeteilte Deutschland empfand er als „moralische Wüste“. Es sei „kein vielversprechender Beruf, Deutscher zu sein“, erinnerte er sich, und in seiner „Verteidigung eines Agnostikers“ notierte er: „Ich wollte lieber schreiben.“ Der Nachteil: ein Gefühl, dass er „nirgendwo voll und ganz dazugehört“.

In Nachkriegsliteratur mitgemischt

Mitgemischt hat der einstige „junge Wilde“ der Nachkriegsliteratur dennoch. Schon mit seinem ersten Lyrikband „Verteidigung der Wölfe“ von 1957 erregte er Aufsehen. Enzensberger schrieb Romane, Essays, Anekdoten und Erinnerungen sowie Dramen, etwa „Untergang der Titanic“, das 1980 von George Tabori inszeniert wurde. Kindern wollte er mit „Der Zahlenteufel“ die Mathematik näher bringen. Für sein Schaffen wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. erhielt er mit erst 33 Jahren den Georg-Büchner-Preis.

Die deutsche Kulturstaatsministerin Claudia Roth bezeichnete Enzensberger am Donnerstag als „einen der vielseitigsten und bedeutendsten deutschen Intellektuellen“, der „ein überwältigendes Lebenswerk“ hinterlasse. „Mit ihm verlieren wir einen unabhängigen Denker, eine streitbare Stimme und einen der renommiertesten Schriftsteller der deutschen Literatur seit 1945“, schrieb der Verlag Carl Hanser in einer Pressemitteilung.

Georg-Büchner-Preis für Hans Magnus Enzensberger, 1963
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Enzensberger zählte zu den jüngsten Preisträgern des Georg-Büchner-Preises

Vieles ausprobiert

Er war Mitglied der Gruppe 47 und eine bestimmende Figur der 68er-Bewegung in Deutschland. Über seine Zeit in der damaligen Außerparlamentarischen Opposition (APO) gibt eines seiner Erinnerungsbücher mit dem vielsagenden Titel „Tumult“ Auskunft.

In dieser Zeit gründete er 1965 das Kulturmagazin „Kursbuch“. Enzensberger probierte vieles aus: Er war Verlagslektor bei Suhrkamp in Frankfurt, verbrachte einige Zeit im sozialistischen Kuba, lebte in Norwegen, Italien, Mexiko, den USA und Westberlin und kam schließlich 1979 nach München. Als Andreas Thalmayr veröffentlichte er ebenso Werke wie etwa unter dem augenzwinkernden Pseudonym Serenus M. Brezengang, das aus den Buchstaben seines echten Namens besteht. In mehr als 40 Sprachen wurden seine Werke übersetzt.

Hans Magnus Enzensberger am Rednerpult bei Proteste gegen Notstandsgesetze 1965 bis 1971 in Deutschland
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Enzensberger war Teil der Porteste gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze in den Jahren 1965 bis 1971

Literatur ohne Migration „trostloses Heimspiel“

Noch zu seinem 90. Geburtstag erschien ein neues Werk: In „Fallobst“ äußerte er sich zu vielen aktuellen Themen, etwa zur Migration. Ohne sie würde jede menschliche Gesellschaft veröden, trotz aller Konflikte und Schwierigkeiten, heißt es darin. „Unsere Literatur und unsere Sprache wären ohne ihre Aus- und Einwanderer ein trostloses Heimspiel geblieben.“

Und Enzensberger warnte vor „unheilvollen Verbindungen von Geheim- und Nachrichtendiensten und Internetkonzernen“: „Die Rolle des Blockwarts und des Denunzianten haben Millionen Überwachungskameras und Mobiltelefone übernommen.“

Aussagen in politischen Debatten polarisierten

„Ihr Mann hat sich nie gescheut, auch die scheinbar so einfachen Fragen zu stellen. Unerschöpfliche Originalität, überraschende Gedanken, Lust an Witz und Ironie waren die unverkennbare Signatur seiner Werke“, schrieb der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Katharina Enzensberger zum Tod ihres Mannes. „Er verkörperte in Person die Gedanken- und Meinungsfreiheit, die unsere Demokratie wie die Luft zum Atmen braucht.“

Enzensberger sei überall dabei gewesen und nirgends, so der „Spiegel“. Ein deutscher Revolutionär, der in der ganzen Welt unterwegs war und alle, Feinde wie Freunde, mit ständigen Positionswechseln überraschte. Das brachte ihm aber auch Kritik ein. So wandte er sich etwa im Laufe der Zeit von der zunächst von ihm unterstützten 68er-Bewegung ab, und auch, dass er Sadam Hussein mit Adolf Hitler gleichsetzte, polarisierte.

In einem „Spiegel“-Gastkommentar kritisierte er 2011 die Bürokratie und fehlende Volksnähe des „sanftes Monsters“ Europäische Union und ortete ein „demokratisches Defizit“, eine „chronische und offenbar schwer zu behandelnde Mangelkrankheit, die zugleich beklagt und verharmlost wird“.

Hans Magnus Enzensberger bei einer Lesung im Jahr 2017
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Enzensberger 2017 in Nordrhein-Westfalen

„Kunst, sich unauffällig zu verabschieden“

„Sehen Sie, es gibt über mich so viele Geschichten. Es gibt die Bruder-Leichtfuß-Geschichte von dem, der überall mitmacht und dauernd seine Überzeugung wechselt, es gibt die Geschichte vom Verräter, der unzuverlässig und kein guter Genosse ist, es gibt die Deutschland-Geschichte über einen, der mit seiner Heimat Probleme hat“, sagte Enzensberger in Bezug auf Kritiker. „Das sind Legenden, mit denen man leben muss. An all diesen Geschichten ist etwas dran. Keine würde ich als absolut falsch bezeichnen. Aber warum soll ich sie mir zu eigen machen?“

Zuletzt lebte der Autor in München, nicht weit entfernt vom Englischen Garten. In „Fallobst“ hatte sich Enzensberger auch über den Lebensabend Gedanken gemacht. „Jetzt gleiche ich einem Autoreifen, aus dem langsam die Luft entweicht“, notierte er und sprach von der „Kunst, sich langsam und möglichst unauffällig vom Leben zu verabschieden“.

Denn „Lorbeerbäumchen, Talkshows, Interviews geben – das alles mag ich nicht“, sagte er einst dem „Süddeutsche Zeitung Magazin“. „Diese naive Eitelkeit, die man braucht, um sich auf einer Bühne wohl zu fühlen, ist mir nicht gegeben.“ Viel lieber sei es ihm, wenn die Leute seine Bücher öffneten.