Mann steht neben einem zerstörten Auto auf der Hauptstraße in Cherson
IMAGO/Le Pictorium/Sadak Souici
Ukraine

Wieder schwere Angriffe auf Cherson

Die russische Armee hat das von ukrainischen Truppen zurückeroberte Gebiet Cherson nach Angaben der regionalen Militärverwaltung am Sonntag mindestens 50-mal beschossen. Militärgouverneur Jaroslaw Januschewitsch warf Russland Terror und gezielte Angriffe auf die Zivilbevölkerung vor. Auf Telegram berichtete er von einem Toten und zwei Verletzten.

Granaten hätten auch Wohnhäuser getroffen. Mehrere Ortschaften entlang des nordwestlichen Ufers des Flusses Dnipro seien unter Beschuss. Die Angaben waren nicht unabhängig überprüfbar. Die Lage in der Stadt Cherson ist auch wegen der Zerstörungen der Stromleitungen und der Infrastruktur kritisch. Nach und nach werden nach Angaben der Militärverwaltung die Haushalte wieder an das Stromnetz angeschlossen. Fünf Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner hätten wieder Licht in ihren Wohnungen. Auch ein Krankenhaus habe wieder Strom.

Wegen der schwierigen Lage hatte die ukrainische Regierung vor wenigen Tagen erste Zivilisten und Zivilistinnen aus der zurückeroberten Stadt geholt. Mit dem Zug wurden rund 100 Menschen nach Chmelnyzkij in den Westen des Landes gebracht. Unter dem Druck ukrainischer Angriffe hatten russische Truppen Cherson nach mehr als acht Monaten Besatzung Mitte November geräumt.

Fast überall in Kiew wieder Strom

Vier Tage nach den schweren russischen Angriffen gibt es in der Hauptstadt Kiew fast überall wieder Strom. Seit Sonntagfrüh sei die Versorgung mit Strom, Wasser, Wärme und Mobilnetz nahezu vollständig wiederhergestellt, teilte die Militärverwaltung im Nachrichtenkanal Telegram mit. Die Reparaturarbeiten befänden sich in der Endphase.

Wegen der tagelangen Stromausfälle in Kiew hatte zuvor Präsident Wolodymyr Selenskyj Kiews Bürgermeister Witali Klitschko ungewöhnlich offen kritisiert. Der ehemalige Boxweltmeister warnte daraufhin vor politischem Streit und rief zu Zusammenhalt auf. Klitschko versicherte in der „Bild am Sonntag“, dass in „Rekordtempo“ an der Wiederherstellung der Stromversorgung gearbeitet werde.

Zudem gebe es 430 Wärmezentren, weitere Hundert seien geplant, falls sich die Lage weiter zuspitzen sollte, erklärte Klitschko am Abend via Telegram. „Ich will nicht in politische Streitereien verwickelt werden“, so Klitschko, der hier noch anführt: „Das ist sinnlos. Ich habe Dinge in der Stadt zu erledigen.“

Nicht erste Kontroverse

Es ist nicht das erste Mal, dass Selenskyj und seine Administration gegen Klitschko schweres Geschütz in Stellung bringen. Bereits nach Selenskyjs Amtsantritt 2019 forderte der damalige Chef des Präsidentenbüros, Andrij Bohdan, den Rücktritt des Hauptstadtbürgermeisters, der seit 2014 im Amt ist. „Er hat die Kontrolle über die Situation in der Stadt im Verlaufe der letzten fünf Jahre verloren“, tönte Bohdan damals.

Damals galt fast als ausgemacht, dass Selenskyj Klitschko zumindest kaltstellen werde. So sollte das Amt des gewählten Bürgermeisters vom Posten des Chefs der Stadtverwaltung getrennt werden. Klitschko wäre damit zu einer Art Grüßaugust geworden. Doch es kam anders. Medienberichten zufolge gelang es Klitschko, über Kontakte zum Selenskyj-Vertrauten Andrij Jermak seine Degradierung zu verhindern. Inzwischen leitet Jermak das Präsidentenbüro.

Ukraine liefert Getreide an ärmste Länder

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj will Getreide im Wert von 150 Millionen Dollar an die ärmsten Länder der Welt liefern. Das verkündete er nach einem Gipfel für Lebensmittelsicherheit in der vom Krieg gebeutelten Ukraine.

Rätseln über Motive

Nach Meinung mancher Beobachter scheint Selenskyj nun einen zweiten Anlauf nehmen zu wollen, um Klitschko als potenziellen Gegner bei der 2024 anstehenden Präsidentenwahl auszuschalten. All das ist angesichts des aktuellen Krieges allerdings noch in weiter Ferne. Und niemand weiß, was tatsächlich hinter dem jüngsten, angesichts der bisherigen Geschlossenheit der ukrainischen Politik und der existenziellen Bedrohung durch Russland mehr als ungewöhnlichen, Schlagabtausch steckt.

Mit Dutzenden Raketen und Marschflugkörpern hatte Russland am Mittwoch gezielt die Energieinfrastruktur des Nachbarlandes beschossen und schwere Schäden angerichtet. Und das bei Weitem nicht zum ersten Mal.

Auch im Zuge des Vormarsches und der Eroberung einzelner Städte – etwa von Lyssytschansk – ging Russland nach dem gleichen Muster vor: Wochenlanges Bombardement und Artilleriebeschuss mit vielen Zivilisten als Opfer, erst dann Vorrücken der Bodentruppen in eine weitgehend zerstörte Stadt, in der sich die Menschen nicht mehr selbst versorgen können. Die russischen Angriffe auf zivile Gebäude und Infrastruktur verstoßen laut Fachleuten mit hoher Wahrscheinlichkeit gegen das Völkerrecht.