Der Schweregrad der Ernährungsunsicherheit in Afghanistan deute darauf hin, dass „erhebliche Verluste an Menschenleben“ zu befürchten seien, schreibt das UNO-Welternährungsprogramm (WFP) in seinem jährlichen „Hunger Hotspots“-Bericht. Von rund 40 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner sei knapp die Hälfte derzeit von akutem Hunger bedroht, so die Schätzung, weshalb „dringender Handlungsbedarf“ bestehe.
Im November wurden bereits fast sechs Millionen Menschen gemäß dem Bewertungssystem des WFP in eine „Notfallphase“ eingestuft. Das Risiko einer extremen Ernährungsunsicherheit mit erheblichen Verlusten an Menschenleben soll weiter zunehmen, da ein harter Winter mit einer mageren Erntezeit zusammenfällt. Die anhaltende Dürre in vielen Teilen des Landes werde zudem zum ersten Mal seit zwei Jahrzehnten wohl das dritte Jahr in Folge andauern.
Nicht nur Auswirkungen der Klimakrise, wie die anhaltende Dürre, sondern auch die politische Instabilität im Land haben die Situation herbeigeführt. Der abrupte Stopp westlicher Unterstützungsgelder seit der Machtergreifung der Taliban habe die wirtschaftliche Notlage weiter verschärft, und Landminen und Sprengkörper würden weiterhin den Zugang für humanitäre Organisationen erschweren, so das WFP. Neun Milliarden US-Dollar (rund 8,7 Mrd. Euro) der afghanischen Zentralbank, die großteils in den USA gelagert sind, sind zudem nach wie vor eingefroren.

Betäubungsmittel billiger als Nahrung
Laut einer Umfrage der Organisation Save the Children im Mai 2022 waren von 1.450 befragten afghanischen Familien rund 97 Prozent nicht in der Lage, ihre Kinder ausreichend zu ernähren. Die Lage hat sich nach wie vor nicht gebessert, im Gegenteil: Eltern würden ihren hungrigen Kindern zunehmend Medikamente geben, um sie zu beruhigen, schreibt die BBC. Verwendet würden Alprazolam, Escitalopram- und Sertralin-Tabletten, die normalerweise zur Behandlung von Angstzuständen und Depressionen verschrieben werden.
Sendungshinweis
Wie die Menschen derzeit in Afghanistan überleben können und wie die Wirtschaft trotz Sanktionen und Dürren funktionieren kann, darüber berichtet Rosa Lyon in „Eco“ am Donnerstag um 22.30 Uhr – mehr dazu in tv.ORF.at.
Die Medikamente seien noch vergleichsweise leistbar. An den seltenen Tagen, an denen Afghanen tatsächlich Arbeit fänden, würden sie etwa 100 Afghanis, also etwas mehr als einen Euro, verdienen. Die BBC konnte bestätigen, dass man in einer afghanischen Apotheke fünf Tabletten für zehn Afghanis (etwa elf Cent) kaufen kann, was dem Preis eines Brotlaibes entspricht.
Organhandel und Verkauf von Töchtern
Andere würden ihre Organe verkaufen, um zu überleben. Der Verkauf von Organen für Geld ist in Afghanistan laut BBC bereits vor der Machtübernahme der Taliban vorgekommen, inzwischen könne aber nicht einmal das finanzielle Sicherheit garantieren.
„Wenn wir an einem Abend etwas essen, haben wir am nächsten Abend nichts mehr. Nachdem ich meine Niere verkauft habe, habe ich das Gefühl, nur noch ein halber Mensch zu sein. Ich fühle mich hoffnungslos. Wenn das Leben so weitergeht, habe ich das Gefühl, ich könnte sterben“, zitiert die BBC einen jungen Afghanen.
Er habe rund 270.000 Afghanis (3.000 Euro) für seine Niere erhalten, von denen er den Großteil für die Rückzahlung von Geld verwendete, das er geborgt hatte, um Lebensmittel für seine Familie zu kaufen. Zudem berichteten der BBC „immer wieder“ Menschen davon, ihre Töchter verkaufen zu müssen, um Schulden zurückzuzahlen. So habe sich etwa eine junge Mutter gezwungen gesehen, zusätzlich zu ihrer Niere auch ihre zweijährige Tochter zu verkaufen, um Geld zurückzuzahlen, das sie sich für eine Schafherde geliehen hatte.

Frauen und Kinder besonders betroffen
„Menschen in Afghanistan, vor allem Frauen und Kinder, brauchen Hilfe. Sie leiden am stärksten unter den Sanktionen“, sagte Samira Sayed-Rahman von der Hilfsorganisation International Rescue Committee (IRC) in Kabul im Gespräch mit der Deutschen Welle (DW). Denn Frauen und Mädchen hätten es zunehmend schwerer, Zugang zum Sozial- und Gesundheitssystem zu erlangen.
Unabhängige UN-Berichterstatter sehen im Umgang der Taliban mit Frauen und Mädchen in Afghanistan Anzeichen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Nirgends sonst auf der Welt würden Mädchen und Frauen so behandelt. Sie kritisierten unter anderem das jüngste Verbot für Frauen, in Parks und Fitnessstudios zu gehen.
Es müsse ermittelt werden, ob es sich bei den Taliban-Vorschriften um „geschlechtsspezifische Verfolgung“ handle. Anklagen unter internationalem Recht sollten den Berichterstattern zufolge in Erwägung gezogen werden. Nach Angaben des UN-Menschenrechtsbüros ist geschlechtsspezifische Verfolgung an sich ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Taliban: Krise Folge der internationalen Sanktionen
Der Hunger und die Wirtschaftskrise seien eine Folge der internationalen Sanktionen gegen Afghanistan und des Einfrierens afghanischer Vermögenswerte, gab der Sprecher der Taliban-Provinzregierung in Herat, Hameedullah Motawakil, im Gespräch mit der BBC an.
„Unsere Regierung versucht festzustellen, wie viele Menschen in Not sind. Viele lügen über ihren Zustand, weil sie glauben, dass sie Hilfe bekommen können“, sagte er trotz übereinstimmender Berichte internationaler Organisationen. Sie würden versuchen, neue Arbeitsplätze zu schaffen durch die Eröffnung neuer Eisenerzminen und Gaspipelines.
Versprechen nicht eingehalten
Die Taliban hatten nach ihrer Machtübernahme vor einem Jahr zunächst versprochen, die Menschenrechte zu achten, sich jedoch wie von der internationalen Gemeinschaft erwartet nicht daran gehalten, so die Kritik der Organisation Human Rights Watch (HRW). Seit ihrer Rückkehr an die Macht im August vergangenen Jahres haben die Taliban schrittweise strenge Regeln und Vorschriften eingeführt, die nach ihrer Auffassung den Normen der Scharia entsprechen.

Zuletzt hatte Taliban-Chef Hibatullah Akhundzada die Richter des Landes zur vollen Umsetzung des islamischen Rechts und seines Strafenkatalogs aufgefordert – inklusive öffentlicher Hinrichtungen, Steinigungen und Auspeitschungen.
„Menschenrechtsalptraum“
Die Bevölkerung lehnt das Taliban-Regime mehrheitlich ab, ist ihm aber ausgeliefert. Seit der Rückkehr der Taliban werden verstärkt Anschläge auf Zivilistinnen und Zivilisten verübt. Zu den meisten bekannte sich die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS).
„Die afghanische Bevölkerung erlebt einen Menschenrechtsalbtraum und ist Opfer sowohl der Grausamkeit der Taliban als auch der Apathie der internationalen Gemeinschaft“, sagte Fereschta Abbasi von HRW. „Sollten sich ausländische Regierungen – bei gleichzeitigem Pochen auf die Einhaltung der Menschenrechte – nicht aktiver um einen Umgang mit den Taliban-Behörden bemühen, sieht die Zukunft Afghanistans trostlos aus.“