Rund 800 Leute arbeiten auf sechs Stöcken im Gebäude der Statistik Austria im elften Wiener Gemeindebezirk. Es ist kurz vor Jahresende, bei den beiden Portieren wird ein Geschenk abgegeben. „Für die Ärztin des Hauses.“ Die Portiere gehen leer aus. „Wieso bekommen wir nichts?“, wird scherzend gefragt. „Ich kann nichts dafür, ich geb nur ab“, verteidigt sich die Zustellerin, sichtlich unangenehm berührt. „Ja ja, so ist das heutzutage. Die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer“, meint einer der beiden.
Es ist genau dieses Thema, mit dem sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von SILC ein paar Räume weiter beschäftigen. SILC, das sind die „Statistics on Income and Living Conditions“, also Statistiken zu „Einkommen und Lebensbedingungen“. Ausgehend von einer Initiative der EU-Kommission werden seit 2003 auch in Österreich regelmäßig Daten erhoben – pro Jahr bei rund 8.600 zufällig ausgewählten Haushalten.
„Statistiken wichtig, um etwas für Menschen zu tun“
Einer, der diese Befragungen durchführt, ist Anton Tischler. Der 52-Jährige macht seit 1986 Meinungsumfragen, seit 2005 für SILC. Warum? „Ich wollte etwas Wichtiges machen. Und nicht nur fragen, ‚Was für ein Waschmittel gefällt Ihnen?‘, sondern wirklich Daten erheben, die etwas ändern und einen Beitrag leisten“, sagt er im Gespräch mit ORF.at.
Statistiken, Zahlen, Daten, Fakten, das mag sich für viele trocken anhören. Doch nicht für Tischler. „Statistiken sind wichtig, um etwas für die Menschen in diesem Land zu tun. Egal, ob durch die Politik oder die Verwaltung. Es ist wichtig zu sehen, wo es Handlungsbedarf gibt und wo es eh gut läuft. Also wer ist die Gruppe, die gerade noch so durchkommt, und wo funktioniert die soziale Unterstützung gut“, erklärt er.
Einblick, wie es den Menschen geht
Viel Persönliches darf er nicht preisgeben, schließlich geht es hier um den Schutz streng geheimer Daten. „Ich unterliege dem Statistikgeheimnis. Das kann ich den Haushalten nicht zumuten zu sagen, es ist alles geheim und dann Gschichtln zu erzählen.“
Aber so viel kann er sagen: „Mir gefällt mein Beruf. Man lernt die unterschiedlichsten Leute kennen, bekommt ein Bild über die ganze Bevölkerung und wirklich einen Einblick, wie es den Menschen geht.“ Etwa, ob die Alleinerzieherin ausreichend Möglichkeiten für Kinderbetreuung hat oder ob die Pensionisten mit ihrem Einkommen auskommen.
„Wie oft waren Sie im letzten Monat glücklich?“
Welche Frage er persönlich am interessantesten findet? „Die mit der Zufriedenheit. Also ob die Leute zufrieden sind mit ihrem Leben.“ Das sei spannend, weil manche trotz schwieriger Lebensumstände oft einen höheren Wert nennen würden als jene mit hohen Lebensstandards. „Das zeigt, dass es wichtig ist, Leute direkt um ihre Meinung zu fragen“, meint Tischler.
Neben objektiven Fragen etwa nach Einkommen und Ausgaben, Bildungsabschluss und Wohnsituation finden sich also auch persönlichere Fragen auf der Liste. „Wie oft waren Sie während der letzten vier Wochen glücklich? Wie oft einsam?“ „Wie zufrieden sind Sie mit Ihren persönlichen Beziehungen, zum Beispiel zu Familie, Freunden, Kollegen, Kolleginnen?“ „Und wie zufrieden sind Sie mit Ihrer verfügbaren Zeit für Dinge, die Sie gerne machen?“
Seitens der Statistik Austria heißt es gegenüber ORF.at dazu, es werde als „sehr wichtig erachtet, dass objektive und subjektive Lebensumstände gemeinsam betrachtet werden“. Schließlich seien diese doch untrennbar miteinander verbunden. Die Fragen sind zwar von der EU großteils vorgegeben, aber individuell auf die Mitgliedsstaaten zugeschnitten, da diese doch beispielsweise stark divergierende Sozialsysteme haben.
Kein zweites Paar Schuhe? „Traurig, aber wahr“
Doch wie kann es sein, dass es in einem Land wie Österreich mit einem vergleichsweise starken Sozialsystem Menschen gibt, die die Frage nach einem zweiten Paar Schuhe aus finanziellen Gründen nicht mit Ja beantworten können?
Tischler meint: „Das frage ich mich auch. Es ist traurig, aber leider wahr.“ Nicht aber ohne noch schnell hinzuzufügen, dass es ihm nicht obliege, Antworten zu bewerten – er sei lediglich ein „neutrales Erhebungsorgan“. Ohnehin wirkt es, als stelle er lieber Fragen, als Fragen zu beantworten. Am Ende meint er aber noch: „Armut gibt es eben. Auch in Österreich.“
Auch, wenn wenig darüber gesprochen wird. Schließlich ist es ein Thema, das viel zu oft noch mit Scham besetzt ist. Warum dem so ist? „Ich glaube, es gibt einen gesellschaftlichen Zwang, dass man erfolgreich ist. Das ist halt ein Druck. Dass man sich den Schulausflug fürs Kind leisten kann, zum Beispiel. Oder einmal im Jahr einen Urlaub außerhalb vom Wohnort“, sagt Tischler.
Was bedeutet Armut?
Die Zahlen zeigen aber ganz klar: Viele können das eben nicht. Vergangenes Jahr waren hierzulande rund 15 Prozent gefährdet, in die Armut abzurutschen, rund zwei Prozent lebten schon unter der Armutsschwelle. Insgesamt kämpfen in Österreich also rund 1,5 Millionen Menschen mit Geldsorgen.
Doch ab wann gilt man eigentlich als armuts- und ausgrenzungsgefährdet? Die Antwort ist nicht ganz einfach, müssen doch mehrere Faktoren zutreffen. Entweder liegt das Einkommen unter der Armutsgefährdungsschwelle von 1.371 Euro im Monat, oder man ist nicht beziehungsweise nur in ganz geringem Ausmaß erwerbstätig, oder es treffen zumindest sieben Punkte aus folgender Liste zu, nämlich dass es finanziell nicht möglich ist:
- unerwartete Ausgaben zu tätigen
- einmal im Jahr auf Urlaub zu fahren
- Miete, Betriebskosten oder Kredite pünktlich zu bezahlen
- jeden zweiten Tag Fleisch, Fisch oder eine vergleichbare vegetarische Speise zu essen
- die Wohnung angemessen warm zu halten
- abgenützte Möbel zu ersetzen
- ein Auto zu besitzen
- eine Internetverbindung zu haben
- abgenutzte Kleidung zu ersetzen
- zwei Paar passende Schuhe zu haben
- jede Woche einen kleinen Betrag für sich selbst auszugeben
- regelmäßig kostenpflichtige Freizeitaktivitäten auszuüben
- einmal im Monat Freunde und Freundinnen oder Familie zum Essen beziehungsweise Trinken zu treffen
Bis 2030 soll die Zahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen in den EU-Ländern jedenfalls um rund 15 Millionen verringert werden. Angesichts der derzeitigen Teuerungskrise ein hehres Ziel. Doch bis dorthin will Tischler weiter von Tür zu Tür ziehen und seine Fragen stellen. Und das „mit größter Wertschätzung“.