Schuhe in Regal
IMAGO/mandarinas
Ein zweites Paar Schuhe?

Wie Armut gemessen wird

„Haben Sie mindestens zwei Paar Schuhe in passender Größe, eines davon winterfest?“ „Können Sie sich leisten, die gesamte Wohnung angemessen warm zu halten?“ „Gibt es in Ihrem Haushalt eine Geschirrspülmaschine?“ „Und wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Leben auf einer Skala von 1–10?“ Es sind Fragen wie diese, mit denen die Statistik Austria Armut messbar und dadurch auch sichtbar machen möchte. Denn obwohl auch in Österreich fast 20 Prozent armuts- oder ausgrenzungsgefährdet sind, ist das Thema ein stilles.

Rund 800 Leute arbeiten auf sechs Stöcken im Gebäude der Statistik Austria im elften Wiener Gemeindebezirk. Es ist kurz vor Jahresende, bei den beiden Portieren wird ein Geschenk abgegeben. „Für die Ärztin des Hauses.“ Die Portiere gehen leer aus. „Wieso bekommen wir nichts?“, wird scherzend gefragt. „Ich kann nichts dafür, ich geb nur ab“, verteidigt sich die Zustellerin, sichtlich unangenehm berührt. „Ja ja, so ist das heutzutage. Die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer“, meint einer der beiden.

Es ist genau dieses Thema, mit dem sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von SILC ein paar Räume weiter beschäftigen. SILC, das sind die „Statistics on Income and Living Conditions“, also Statistiken zu „Einkommen und Lebensbedingungen“. Ausgehend von einer Initiative der EU-Kommission werden seit 2003 auch in Österreich regelmäßig Daten erhoben – pro Jahr bei rund 8.600 zufällig ausgewählten Haushalten.

Statistik Austria
ORF.at/Tamara Sill
Statistiken zu „Einkommen und Lebensbedingungen“, von der EU ins Leben gerufen und für Österreich von der Statistik Austria umgesetzt

„Statistiken wichtig, um etwas für Menschen zu tun“

Einer, der diese Befragungen durchführt, ist Anton Tischler. Der 52-Jährige macht seit 1986 Meinungsumfragen, seit 2005 für SILC. Warum? „Ich wollte etwas Wichtiges machen. Und nicht nur fragen, ‚Was für ein Waschmittel gefällt Ihnen?‘, sondern wirklich Daten erheben, die etwas ändern und einen Beitrag leisten“, sagt er im Gespräch mit ORF.at.

Anton Tischler (Statistik Austria)
ORF.at/Tamara Sill
Anton Tischler geht von Tür zu Tür und befragt Menschen zu ihren Einkommen und Lebensbedingungen. Damit will er „einen Beitrag“ für die Gesellschaft leisten.

Statistiken, Zahlen, Daten, Fakten, das mag sich für viele trocken anhören. Doch nicht für Tischler. „Statistiken sind wichtig, um etwas für die Menschen in diesem Land zu tun. Egal, ob durch die Politik oder die Verwaltung. Es ist wichtig zu sehen, wo es Handlungsbedarf gibt und wo es eh gut läuft. Also wer ist die Gruppe, die gerade noch so durchkommt, und wo funktioniert die soziale Unterstützung gut“, erklärt er.

Einblick, wie es den Menschen geht

Viel Persönliches darf er nicht preisgeben, schließlich geht es hier um den Schutz streng geheimer Daten. „Ich unterliege dem Statistikgeheimnis. Das kann ich den Haushalten nicht zumuten zu sagen, es ist alles geheim und dann Gschichtln zu erzählen.“

Aber so viel kann er sagen: „Mir gefällt mein Beruf. Man lernt die unterschiedlichsten Leute kennen, bekommt ein Bild über die ganze Bevölkerung und wirklich einen Einblick, wie es den Menschen geht.“ Etwa, ob die Alleinerzieherin ausreichend Möglichkeiten für Kinderbetreuung hat oder ob die Pensionisten mit ihrem Einkommen auskommen.

Metro Kino
ORF.at/Sabine Koder
Armut hat viele Gesichter – nicht am sozialen Leben teilhaben und etwa ins Kino gehen zu können, ist eines davon

„Wie oft waren Sie im letzten Monat glücklich?“

Welche Frage er persönlich am interessantesten findet? „Die mit der Zufriedenheit. Also ob die Leute zufrieden sind mit ihrem Leben.“ Das sei spannend, weil manche trotz schwieriger Lebensumstände oft einen höheren Wert nennen würden als jene mit hohen Lebensstandards. „Das zeigt, dass es wichtig ist, Leute direkt um ihre Meinung zu fragen“, meint Tischler.

Neben objektiven Fragen etwa nach Einkommen und Ausgaben, Bildungsabschluss und Wohnsituation finden sich also auch persönlichere Fragen auf der Liste. „Wie oft waren Sie während der letzten vier Wochen glücklich? Wie oft einsam?“ „Wie zufrieden sind Sie mit Ihren persönlichen Beziehungen, zum Beispiel zu Familie, Freunden, Kollegen, Kolleginnen?“ „Und wie zufrieden sind Sie mit Ihrer verfügbaren Zeit für Dinge, die Sie gerne machen?“

Seitens der Statistik Austria heißt es gegenüber ORF.at dazu, es werde als „sehr wichtig erachtet, dass objektive und subjektive Lebensumstände gemeinsam betrachtet werden“. Schließlich seien diese doch untrennbar miteinander verbunden. Die Fragen sind zwar von der EU großteils vorgegeben, aber individuell auf die Mitgliedsstaaten zugeschnitten, da diese doch beispielsweise stark divergierende Sozialsysteme haben.

Gruppe beim Essen im Restaurant
Getty Images/iStockphoto
„Wie zufrieden sind Sie mit Ihren persönlichen Beziehungen?“ – subjektive und objektive Lebensumstände werden bei SILC gemeinsam betrachtet

Kein zweites Paar Schuhe? „Traurig, aber wahr“

Doch wie kann es sein, dass es in einem Land wie Österreich mit einem vergleichsweise starken Sozialsystem Menschen gibt, die die Frage nach einem zweiten Paar Schuhe aus finanziellen Gründen nicht mit Ja beantworten können?

Tischler meint: „Das frage ich mich auch. Es ist traurig, aber leider wahr.“ Nicht aber ohne noch schnell hinzuzufügen, dass es ihm nicht obliege, Antworten zu bewerten – er sei lediglich ein „neutrales Erhebungsorgan“. Ohnehin wirkt es, als stelle er lieber Fragen, als Fragen zu beantworten. Am Ende meint er aber noch: „Armut gibt es eben. Auch in Österreich.“

Auch, wenn wenig darüber gesprochen wird. Schließlich ist es ein Thema, das viel zu oft noch mit Scham besetzt ist. Warum dem so ist? „Ich glaube, es gibt einen gesellschaftlichen Zwang, dass man erfolgreich ist. Das ist halt ein Druck. Dass man sich den Schulausflug fürs Kind leisten kann, zum Beispiel. Oder einmal im Jahr einen Urlaub außerhalb vom Wohnort“, sagt Tischler.

Menschen im Sozialmarkt
Sozialmarkt Wien
Kein Auskommen mit dem Einkommen – Sozialmärkte erfahren derzeit einen starken Zulauf

Was bedeutet Armut?

Die Zahlen zeigen aber ganz klar: Viele können das eben nicht. Vergangenes Jahr waren hierzulande rund 15 Prozent gefährdet, in die Armut abzurutschen, rund zwei Prozent lebten schon unter der Armutsschwelle. Insgesamt kämpfen in Österreich also rund 1,5 Millionen Menschen mit Geldsorgen.

Doch ab wann gilt man eigentlich als armuts- und ausgrenzungsgefährdet? Die Antwort ist nicht ganz einfach, müssen doch mehrere Faktoren zutreffen. Entweder liegt das Einkommen unter der Armutsgefährdungsschwelle von 1.371 Euro im Monat, oder man ist nicht beziehungsweise nur in ganz geringem Ausmaß erwerbstätig, oder es treffen zumindest sieben Punkte aus folgender Liste zu, nämlich dass es finanziell nicht möglich ist:

  1. unerwartete Ausgaben zu tätigen
  2. einmal im Jahr auf Urlaub zu fahren
  3. Miete, Betriebskosten oder Kredite pünktlich zu bezahlen
  4. jeden zweiten Tag Fleisch, Fisch oder eine vergleichbare vegetarische Speise zu essen
  5. die Wohnung angemessen warm zu halten
  6. abgenützte Möbel zu ersetzen
  7. ein Auto zu besitzen
  8. eine Internetverbindung zu haben
  9. abgenutzte Kleidung zu ersetzen
  10. zwei Paar passende Schuhe zu haben
  11. jede Woche einen kleinen Betrag für sich selbst auszugeben
  12. regelmäßig kostenpflichtige Freizeitaktivitäten auszuüben
  13. einmal im Monat Freunde und Freundinnen oder Familie zum Essen beziehungsweise Trinken zu treffen

Bis 2030 soll die Zahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen in den EU-Ländern jedenfalls um rund 15 Millionen verringert werden. Angesichts der derzeitigen Teuerungskrise ein hehres Ziel. Doch bis dorthin will Tischler weiter von Tür zu Tür ziehen und seine Fragen stellen. Und das „mit größter Wertschätzung“.