Firmenlogo von „wirecard“
IMAGO/Sven Simon/Frank Hoermann
Milliardengrab Wirecard

Prozess gegen Ex-Chef Braun gestartet

Zweieinhalb Jahre nach der spektakulären Pleite des Finanzkonzerns Wirecard hat der Mammutstrafprozess gegen dessen ehemaligen Chef, den Österreicher Markus Braun, begonnen. In einem der größten Finanzskandale der deutschen Geschichte müssen sich Braun und zwei weitere frühere Manager des einstigen DAX-Konzerns ab Donnerstag vor dem Landgericht München I verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen Bilanzfälschung, Marktmanipulation, Untreue und gewerbsmäßigen Bandenbetrug vor.

Mit 45-minütiger Verspätung eröffnete der Vorsitzende Richter Markus Födisch am Donnerstag das Großverfahren gegen den früheren Vorstandschef Braun und seine zwei Mitangeklagten. Allein die Verlesung des 89-seitigen Anklagesatzes in dem unterirdischen Hochsicherheitstrakt neben der Justizvollzugsanstalt Stadelheim dauerte mehrere Stunden.

Wirecard wurde nach Ansicht der Münchner Staatsanwaltschaft von einer Verbrechergruppe gesteuert. Braun habe sich mit anderen Spitzenmanagern zu einer „Bande“ zusammengeschlossen, um die Existenz eines erfolgreichen Unternehmens vorzutäuschen, sagte Staatsanwalt Matthias Bühring bei der Verlesung.

15 Jahre Haft möglich

Zur Eröffnung des Verfahrens bestätigte der 53 Jahre alte Braun lediglich seine Personalien. „Absolut richtig“, antwortete der seit zweieinhalb Jahren in Untersuchungshaft sitzende Manager auf die Frage, ob er in Bayerns größtem Gefängnis untergebracht sei. Zu den Vorwürfen aussagen soll Braun kommende Woche.

Laut Anklage sollen die Manager den eigentlich unprofitablen Zahlungsdienstleister mit erfundenen Milliardenumsätzen schöngerechnet haben, um Anleger und Kreditgeber zu täuschen. Diese haben eine zweistellige Milliardensumme verloren. Braun hat die Vorwürfe zurückgewiesen. Im Falle einer Verurteilung drohen den Angeklagten bis zu 15 Jahre Haft. Mit einem Urteil der Strafkammer wird frühestens im Jahr 2024 gerechnet.

Der Aufstieg der Finanztechnologiefirma aus dem Münchner Vorort Aschheim verlief fast so aufsehenerregend wie ihr Fall. Jahrelang hatte sich Wirecard als Gewinner des Internethandels präsentiert und boomende Geschäfte mit der Abwicklung von Onlinezahlungen ausgewiesen. Die von Braun verkündete Wachstumsstory begeisterte Kleinanleger wie Großinvestoren. 2018 löste Wirecard die Commerzbank im Leitindex DAX ab.

Markus Braun vor dem Untersuchungsausschuss in Berlin
Reuters/Fabrizio Bensch
Im Untersuchungsausschuss des deutschen Bundestages vor zwei Jahren wollte Braun nicht aussagen

Zeitweise war das Unternehmen an der Börse mehr wert als die Deutsche Bank und erwog sogar deren Übernahme. Zwar wurde auf den Finanzmärkten und in Medien wiederholt der Vorwurf von Unregelmäßigkeiten laut. Doch Wirtschaftsprüfer, Finanzaufsicht und Strafverfolger sahen lange keinen Grund einzuschreiten.

1,9 Milliarden Euro „verschwunden“

Im Juni 2020 musste Wirecard jedoch einräumen, dass auf den Firmenkonten 1,9 Milliarden Euro fehlten. Das löste ein wirtschaftliches und ein politisches Beben aus. Der Aktienkurs stürzte ab, der Konzern rutschte als erstes DAX-Unternehmen in die Insolvenz, Braun trat zurück und kam in Untersuchungshaft. In einem Untersuchungsausschuss des Bundestages wurde das Versagen mehrerer Aufsichtsstellen deutlich. Bei der Aufsichtsbehörde BaFin, bei der „Bilanzpolizei“ DPR und bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY wurden führende Köpfe ausgetauscht. Der Bund reformierte die Finanzaufsicht.

Pfeifer (ORF) über Wirecard-Prozesses

Andreas Pfeifer (ORF) berichtet über den Wirecard-Prozess, bei dem es um gefälschte Bilanzen sowie erfundene Milliardenumsätze des IT-Unternehmens geht. Der österreichische Wirecard-Chef Markus Braun, der seit zweieinhalb Jahren in Untersuchungshaft sitzt, steht vor Gericht.

Die Staatsanwaltschaft München und eine Sonderkommission der Polizei durchleuchteten das globale Firmengeflecht um Wirecard in einem ihrer umfangreichsten Ermittlungsverfahren. Dutzende Beamte führten 450 Vernehmungen, durchsuchten mehr als 40 Objekte allein in Deutschland und werteten 42 Terabyte Daten aus. Weltweit wurden Behörden in mehr als zwei Dutzend Ländern eingeschaltet – von der Schweiz bis Singapur, von Österreich bis zu den Philippinen, von Großbritannien bis Russland. Die Ermittler um Staatsanwalt Bühring trugen ihre Ergebnisse in mehr als 700 Aktenordnern zusammen.

Milliardenerlöse laut Anklage nur erfunden

Der Kernvorwurf in der 474 Seiten starken Anklageschrift dreht sich um Zahlungsdienste, deren Abwicklung Wirecard nach eigenen Angaben an andere Unternehmen ausgelagert hatte. Grund der Auslagerung sollen unter anderem als anrüchig geltende Geschäfte mit Pornografie und Glücksspiel gewesen sein. Doch die angeblich milliardenschweren Erlöse aus dem Geschäft mit Drittpartnern („Third Party Acquirers“, TPA) hätten tatsächlich nicht existiert, ist die Staatsanwaltschaft überzeugt.

Dementsprechend seien Wirecard-Bilanzen und Geschäftsprognosen seit 2015 falsch gewesen. Damit habe das Management Anleger und Banken getäuscht. Außerdem hätten Braun und andere Topmanager Hunderte Millionen Euro für dubiose Zwecke aus Wirecard-Kassen abgezweigt. Insolvenzverwalter Michael Jaffe kam zum gleichen Ergebnis.

Braun sieht sich auf Opfer Marsaleks

Braun hingegen sieht sich als Opfer einer Bande, die hinter seinem Rücken Milliardensummen veruntreut habe. Brauns Vorwurf zielt offenbar auf seinen ehemaligen Vorstandskollegen Jan Marsalek ab, der für das angeblich erfolgreiche Asiengeschäft verantwortlich war. Dieser war nach dem Auffliegen des Bilanzskandals untergetaucht. Marsalek wird mit internationalem Haftbefehl gesucht und in Russland vermutet. Braun vertritt im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft die Ansicht, dass die TPA-Umsätze existiert hätten. Die Manipulation von Geschäftszahlen habe für die Verantwortlichen vielmehr den Zweck gehabt, die Veruntreuungen zu verschleiern.

Kronzeuge will gegen Braun aussagen

Die Staatsanwaltschaft stützt sich unter anderem auf Aussagen des Mitangeklagten Oliver Bellenhaus. Der frühere Statthalter von Wirecard in Dubai gilt in dem Prozess als Kronzeuge. Er hat von seinen Anwälten erklären lassen, er stelle sich seiner Verantwortung. Bellenhaus sitzt wie Braun in München in Untersuchungshaft.

Der dritte Angeklagte, der frühere Wirecard-Bilanzchef Stephan von Erffa, ist auf freiem Fuß. Er hatte im Bundestagsuntersuchungsausschuss um Entschuldigung für die Vorgänge bei Wirecard gebeten, will sich aber seinem Anwalt zufolge derzeit nicht zu der Anklage äußern.

In dem Gerichtssaal im Gefängnis München-Stadelheim, dem größten und modernsten Saal der Münchner Justiz, sind vorläufig 100 Verhandlungstermine bis Ende kommenden Jahres angesetzt.