Zwei Männer arbeiten an einem Motorrad in einer Fabrik in Indien
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Wirtschaft

Indiens neues Wettrennen mit China

Indien wird laut Prognosen 2023 China als bevölkerungsreichstes Land der Erde ablösen. Aufgrund zunehmender Spannungen und Konkurrenz des Westens mit Peking und der Lieferkettenprobleme versuchen mehr und mehr westliche Konzerne, sich ganz oder teilweise aus China als Produktionsstandort zurückzuziehen. Eine naheliegende Alternative ist hier die größte Demokratie der Welt.

Doch noch ist unsicher, ob es Indien gelingt, China quasi als Werkbank des Westens und damit Hauptziel ausländischer Investoren abzulösen. Dafür gibt es mehrere Gründe. Dabei hat die Weltbank erst Anfang Dezember dem Land bescheinigt, besser als andere Schwellenländer gerüstet zu sein, um sich im globalen konjunkturellen Gegenwind behaupten zu können.

Die strengere Geldpolitik der Zentralbanken (Anhebung der Zinsen, Anm.), die schlechten Konjunkturaussichten bei gleichzeitig steigenden Preisen und Inflation würden auch Indiens Wirtschaftswachstum bremsen.

eine Person arbeitet an der Karosserie eines Autos in einer Fabrik in Indien
APA/AFP/Arun Sankar
Fertigungsstraße in einer Renault-Fabrik in Chennai. Die Autoindustrie wird von der Regierung besonders stark gefördert.

Heimmarkt als Absicherung

Vor allem dank des großen heimischen Marktes und einer dort robusten Nachfrage erwartet die Weltbank aber ein Wachstum von fast sieben Prozent. Damit ist Indien eines der Länder mit dem stärksten Wirtschaftswachstum weltweit.

Ein Prozent weniger Wachstum in den USA habe 0,4 Prozent weniger Wachstum in Indien zur Folge. In den anderen Schwellenländern ist dieser Wert fast viermal so hoch, nämlich bei 1,5 Prozent. Vor allem bescheinigt die Weltbank Indien Fortschritte bei der Schaffung eines besseren regulatorischen Rahmens auf dem Finanzsektor. Aber auch die Weltbank sieht hier bei allem Optimismus noch Handlungsbedarf.

Großes Potenzial, hohe Hürden

Das angesehene britische Wirtschaftsmagazin „Economist“ fragte bereits im Mai in einem Artikel, ob jetzt der Augenblick für Indien gekommen sei, aus Chinas Schatten zu treten, und kam zum Schluss: wahrscheinlich ja. Im November betonte der Chefanalyst für Asien der Investmentbank Morgan Stanley, Chetan Ahya, dass Indien in den nächsten zehn Jahren für ein Fünftel des gesamten weltweiten Wachstums verantwortlich sein werde.

Doch Arvind Subramanian und Josh Felman sehen große Hürden und zeigten sich zuletzt in einem gemeinsamen Artikel für „Foreign Affairs“ sehr skeptisch – und sie sind ausgewiesene Kenner: Subramanian war 2014 bis 2018 Wirtschaftsberater der indischen Regierung, Felman war 2006 bis 2008 Repräsentant des Internationalen Währungsfonds im Land.

eine Arbeiterin in einer Fabrik für Solarmodule in Indien
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Eine Arbeiterin in einer Solarpaneelfabrik im Bundesstaat Tamil Nadu

Investieren riskant

Sie benennen drei Problemfelder, die Indien derzeit daran hindern, die sich durch Chinas eigene Schwierigkeiten bietende Chance zu nutzen. Erstens seien die Investitionsrisiken zu hoch: Vor allem ausländische Investoren müssten fürchten, dass die politischen Rahmenbedingungen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung für Investitionen gelten, später dramatisch verändert werden – oder dass indische Behörden in der Praxis einheimische Konkurrenten bevorzugen.

Große Namen wie Google, Walmart, Vodafone, General Motors und Amazon haben sich bereits die Finger verbrannt und ihr Engagement nach entsprechenden Erfahrungen nicht ausgebaut oder gar reduziert. Und als Absatzmarkt gilt laut den beiden Experten: Indien ist zwar riesig, aber die wichtige Mittelschicht ist mit rund 15 Prozent der Gesamtbevölkerung sehr klein.

Starker Protektionismus

Ein im Vorjahr gestartetes Förderprogramm (Production Linked Incentive, PLI), mit dem die indische Regierung die Produktion in vielen Sektoren stark ankurbeln will, hat laut Subramanian und Felman ein grundsätzliches Problem. Denn um die inländische Industrieproduktion zu stärken, erhebt Indien hohe Zölle auf Komponenten.

In vielen Sektoren werden Produkte aber aus Hunderten oder Tausenden Teilen, die meist aus vielen verschiedenen Ländern zugeliefert werden, zusammengebaut. Anders gesagt: Indien ist nach derzeit herrschenden Standards zu protektionistisch, um internationale Konzerne im großen Stil aus China wegzulocken.

Freihandelsabkommen, mit denen solche Schranken abgebaut werden, hat Indien zuletzt nur mit Australien und Saudi-Arabien geschlossen. Zum Vergleich: Vietnam schloss seit 2010 zehn Freihandelsabkommen ab, darunter mit China, der EU und Großbritannien.

Einschulung von Mitarbeitern in einer Fabrik in Indien
APA/AFP/Sam Panthaky
Einschulung in einer neuen Motorrad- und Scooter-Fabrik von Honda

Schwierige Eckdaten

Die makroökonomischen Eckdaten sprächen ebenfalls gegen einen wirtschaftlichen Höhenflug: Das Außenhandelsdefizit sei ebenso zu hoch wie die Inflation, und das Leistungsbilanzdefizit sei mittlerweile auf vier Prozent des BIP gestiegen. Außer in den USA und der Türkei seien diese drei Indikatoren in keiner anderen großen Volkswirtschaft so schlecht.

Wegen der hohen Staatsverschuldung gingen mehr als 20 Prozent des Budgets für den Schuldendienst drauf – zum Vergleich: In den USA sind es acht Prozent, in Österreich heuer ein Prozent. Die aktuell hohen Wachstumsraten von sieben Prozent würden zudem täuschen: Denn 2020 habe Indien den stärksten Einbruch aller Schwellenländer bei der Produktion verzeichnet.

Naheliegend, aber nicht zwingend

All diese Faktoren zusammengenommen sprechen derzeit dagegen, dass Indien der Hauptprofiteur von einer sich abzeichnenden stärkeren Abwendung des Westens von China wird. Denn, so Subramanian und Felman: Für internationale Konzerne gibt es mit einer geförderten Rückverlagerung in die USA und Europa oder in andere südostasiatische Staaten genügend Alternativen zu China – und Indien.