marokkanische und französische Fans jubeln gemeinsam
Reuters/Benoit Tessier
Frankreich vs. Marokko

Halbfinale mit besonderer Symbolkraft

Mit dem Einzug ins Halbfinale ist Marokko bei der Fußballweltmeisterschaft in Katar ein bisher beispielloser Coup gelungen. Ob Marokko nun auch als erstes afrikanisches Land das WM-Finale erreicht, entscheidet sich am Mittwoch ausgerechnet gegen Frankreich: in einem weit über sportliche Belange hinausgehenden hochbrisanten Duell.

Für Marokko ist Frankreich zum einen der amtierende und zu schlagende Fußballweltmeister – aber auch eine ehemalige Kolonialmacht. Konkret wurde ein Großteil des nordafrikanischen Landes in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für rund vier Jahrzehnte von Frankreich als Protektorat kontrolliert – und das birgt bis heute anhaltenden Zündstoff.

Kritiker werfen Frankreich in diesem Zusammenhang immer wieder vor, Marokko weiter wie einen Hinterhof zu behandeln. Frankreich hält dem entgegen, etwa durch seine Investitionen in der Automobilindustrie Marokko erst auf die internationale industrielle Landkarte gebracht und damit Hunderttausende von Arbeitsplätzen geschaffen zu haben. Außer Frage steht: Viele französische Unternehmen spielen in Marokko eine Schlüsselrolle, und das quer durch Wirtschaft, Medien und Kultur.

Diese Verflechtung sei „einmalig“, so der Berliner „Tagesspiegel“, allerdings würden sich derzeit auch abseits vom Fußballplatz die Machtverhältnisse verschieben. Marokko beschreibt die Zeitung als aufstrebende Regionalmacht, die sich zunehmend „aus der asymmetrischen Beziehung zu Paris befreit“.

„Es ist ein historischer Moment“

Wenn Marokko und Frankreich am Mittwoch im WM-Halbfinale aufeinandertreffen, wird das nicht zuletzt für Hunderttausende in Frankreich lebende Menschen mit marokkanischen Wurzeln eine emotionale Partie. „Wenn Frankreich trifft, werde ich weinen. Wenn Marokko trifft, werde ich weinen“, sagte eine Franko-Marokkanerin gegenüber der Zeitung „Le Parisien“.

Geht es nach Frankreichs Nationaltrainer Didier Deschamps sei vollkommen offen, wer am Mittwoch im Al Bayt Stadium in der katarischen Küstenstadt al-Chaur als Sieger vom Platz geht. „Es ist ein historischer Moment“, so Deschamps, der mit Frankreich erstmals wie Brasilien im Jahr 1962 einen WM-Titel verteidigen und damit ebenfalls in die Sporthistorie eingehen könnte.

Dutzende Sonderflüge nach Doha

Unterstützung erhält Frankreichs Fußballnationalteam im Stadion von Präsident Emmanuel Macron – und Marokko wohl vom Großteil der rund 70.000 im Stadion erwarteten Zuschauerinnen und Zuschauer. Allein die marokkanische Fluglinie Air Maroc plante im Vorfeld der Partie mit rund 30 Sonderflügen, um marokkanische Fans nach Doha zu bringen. „Sie haben eine große Unterstützung, es wird sehr laut“, prophezeite Deschamps.

Marokko besiegte auf dem Weg ins Halbfinale mit Belgien, Spanien und Portugal – unterstützt von lautstarken Fans – bisher gleich mehrere Turnierfavoriten und vergrößerte auf dem Weg ins Halbfinale seine Anhängerschaft stetig. In Katar ist die marokkanische Auswahl längst zu einem Symbol geworden. Nach dem frühen Aus des Gastgebers, von Saudi-Arabien und Tunesien tragen die „Löwen vom Atlas“ die Hoffnungen der arabischen Fans. „Katar verliebt sich in Marokko“, schrieb die Zeitung „Le Parisien“.

jubelnde marokkanische Fans
IMAGO/Xinhua/Li Gang
Marokko hat bereits mit dem Einzug ins Halbfinale Historisches erreicht

„Die katarische Herrscherfamilie feiert die WM als historischen Aufbruch für die arabische Welt“, heißt es dazu bei der „Frankfurter Rundschau“ („FR“). Ob „im Nahen Osten, Afrika oder der entkolonialisierten Welt“ – überall feiern Menschen den bisherigen Erfolgslauf der marokkanischen Mannschaft, und dabei gehe es schon lange nicht mehr allein um „die guten sportlichen Gefühle“, so die „Washington Post“.

„Für viele Menschen führe die marokkanische Mannschaft einen symbolischen Krieg“, sagte der Zeitung zufolge die Nahostexpertin Monica Marks von der New York University in Abu Dhabi. Diese ortet eine „weltweite Umarmung Marokkos als Vorreiter der postkolonialen Welt“ – mit Verweis auf Marokkos Besetzung der Westsahara sei die Thematik laut Marks aber wohl „ein bisschen komplizierter“.

„Machen die ganze Welt glücklich“

„Wir machen unser Volk, unseren Kontinent und die arabische Welt glücklich. Wir machen die ganze Welt glücklich“, sagte nach geglücktem Einzug ins Halbfinale unterdessen Marokkos Teamchef Walid Regragui. So wie Regragui sind etliche weitere Spieler der marokkanischen Manschaft in Frankreich geboren. Weitere kommen aus Kanada, Spanien, Belgien und den Niederlanden.

Vor der WM, so Regragui, habe es Diskussionen gegeben, über die Profis aus dem Ausland, die Marokko angeblich nicht „mögen oder lieben“. Die WM-Spiele aber haben gezeigt, dass jeder „Marokkaner Marokkaner ist“, wie Regragui hier noch anfügte.

„Die Identifikation mit Marokko bleibt trotzdem hoch, was natürlich auch am Rassismus liegt, der Menschen aus der Region in Frankreich häufig entgegenschlägt“, sagte dazu gegenüber der dpa Jakob Krais, Professor für Neuere und Neueste Kulturgeschichte Nordafrikas an der Universität der Bundeswehr München.

Erinnerung an Frankreich gegen Algerien

„Grundsätzlich wäre ja auch ein vierter Platz bei der WM für Marokko und die ganze arabische Welt ein historischer Erfolg.“ Das Spiel am Mittwoch könnte aber laut Krais in den sozial schwachen französischen Banlieues als „Vehikel“ genutzt werden, um die „generelle Frustration über ihre Lage“ abzulassen.

Die bisherigen Siege von Marokko wurden von Paris über Brüssel bis nach Mailand euphorisch gefeiert. Dabei kam es auch zu Ausschreitungen. Entsprechend rüsten sich die Sicherheitskräfte für die Nacht nach dem Halbfinale in Katar. Frankreich mobilisiert 10.000 Polizeibeamten, die Hälfte davon soll im Großraum Paris eingesetzt werden, kündigte Innenminister Gerald Darmanin an. Die Prachtstraße Champs-Elysees, auf der zuvor schon Tausende Fans das Weiterkommen beider Mannschaften gefeiert hatten, solle frei zugänglich sein.

Beim ersten Spiel zwischen Frankreich und Algerien, das ähnlich wie Marokko mit Frankreich verbunden ist, hatten im Jahr 2001 Dutzende algerische Fans den Rasen im Stadion St. Denis bei Paris gestürmt und einen skandalösen Abbruch provoziert. Zwischen Marokko und Frankreich gab es bisher fünf Testspiele.