Der ÖVP-Abgeordnete Michael Graff trägt während des Redemarathons im Parlament am 12. März 1993 einen einsamen Kampf gegen die Müdigkeit aus.
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Schlaflos im Parlament

Die Nacht der langen Reden

Lange und zähe Debatten im Nationalrat sind an sich nicht ungewöhnlich. Egal ob Tag oder Nacht: Für das politische Rededuell hat man immer noch Zeit gefunden. Doch das, was sich vor 30 Jahren zu später Stunde im Hohen Haus abspielte, trieb selbst dem erfahrensten Abgeordneten den Schlaf in die Augen.

Als die Mandatare und Mandatarinnen am frühen Morgen des 11. März 1993 das Parlament erneut betraten, um die davor unterbrochene 107. Sitzung der XVIII. Gesetzgebungsperiode wieder aufzunehmen, ahnten die meisten von ihnen nicht, dass das Licht im historischen Gebäude dieses Mal nicht so schnell wieder abgedreht würde. Ganze 38 Stunden und 44 Minuten wurde im Plenarsaal ohne größere Unterbrechung debattiert. Am längsten standen drei Abgeordnete der kleinsten Partei hinter dem Rednerpult: Marijana Grandits, Madeleine Petrovic, Monika Langthaler.

„Die ersten 15 Minuten waren überhaupt kein Problem für mich. Von den anderen Parteien hat ja niemand etwas vom Plan mitbekommen“, erinnert sich Grandits im ORF.at-Gespräch. Die frühere außenpolitische Sprecherin der Grünen läutete um 11.40 Uhr den Redemarathon ein. Insgesamt sprach die Abgeordnete knapp fünf Stunden, bevor sie an ihre Parteikolleginnen übergab. Mit ihrer zehneinhalb Stunden langen Rede stellte Petrovic einen nationalen Rekord auf. Langthaler steuerte später weitere fünfeinhalb Stunden hinzu.

Tropenholz als Auslöser für Filibuster

Um im Parlament stundenlang ununterbrochen zu reden, braucht es natürlich einen Grund, konkret: einen Punkt auf der Tagesordnung der Nationalratssitzung. Damals hieß dieser Tropenholz. Österreich hatte 1992 eine Kennzeichnungspflicht von importiertem Tropenholz eingeführt, um ein Zeichen gegen Raubbau in den Regenwäldern zu setzen. An der Ausformulierung des Gesetzes waren SPÖ und ÖVP als Koalition sowie die Grünen als kleinste Oppositionspartei beteiligt. Der Beschluss sei ein wichtiger Schritt in der Umweltpolitik, hieß es.

Doch die Einigkeit hielt nur kurz. Nach wenigen Monaten wollten SPÖ und ÖVP das Gesetz komplett ändern. Damals hieß es offiziell in den Unterlagen, dass die internationale Gemeinschaft ja selbst Initiativen gestartet habe. Statt nationale Alleingänge zu wagen, müsse man kooperieren. Tatsache ist auch, dass Staaten, die mit dem Export von Tropenholz Geld machten, wegen der verpflichtenden Kennzeichnung damit drohten, den Import österreichischer Waren zu kippen. Zudem hatten heimische Unternehmen geltend gemacht, dass sie in und von diesen Ländern nun bei Geschäften benachteiligt werden.

Grafik zeigt den Ablauf der 107. und 108. Nationalratssitzung 1993
Grafik: ORF.at; Quelle: Parlament

Aus diesen Gründen überlegten SPÖ und ÖVP, an der Kennzeichnung zu rütteln. Der Plan sah vor, die Pflicht abzuschaffen. In der Plenarwoche im März 1993 sollte die Änderung beschlossen werden – für die Grünen, die das erste Gesetz mitbeschlossen hatten, war das freilich ein No-Go. Die Kennzeichnungspflicht sei eine gute Sache gewesen, betont die frühere Abgeordnete Petrovic im ORF.at-Gespräch. „Wir forderten ein Importverbot von Tropenholz, aber mit der Kennzeichnungspflicht waren wir nicht unglücklich. Als dann bekanntwurde, dass SPÖ und ÖVP die wieder abschaffen wollten, mussten wir was dagegen tun.“

Lücke entdeckt und ausgenutzt

Kurz vor Beginn der Plenarwoche diskutierten die zehn Abgeordneten des Grünen-Klubs, was sie machen sollten. Kurzfristig, aber im Konsens sei die Entscheidung auf einen Filibuster gefallen, sagt Grandits heute. Als Filibuster wird eine Endlosrede in einem Parlament bezeichnet, um Abstimmungen im besten Fall zu verhindern bzw. im realistischen Fall ein paar Stunden zu verzögern. In den USA gelten die Ermüdungsreden als legendär, in Österreich kamen sie hingegen kaum vor. Der Grund liegt in den vorher festgelegten Redezeitbeschränkungen pro Tagesordnungspunkt.

Doch damals im März 1993 nutzten die Grünen ein Versäumnis von SPÖ und ÖVP aus. Denn beim 5. Tagesordnungspunkt der 107. Sitzung des Nationalrats, dem Internationalen Übereinkommen von 1989 über Jute und Jute-Erzeugnisse, wurde keine Redezeit vereinbart. Die restlichen Klubs seien damals davon ausgegangen, dass man über Jute nicht viel sagen könne, erinnert sich Grandits. Das Übereinkommen sei damals ja unstrittig gewesen und für politische Debatten „eher unbedeutend“.

Umso überraschter dürften ihre Parlamentskollegen und -kolleginnen gewesen sein, als die Abgeordnete nicht aufhörte zu reden. In fast fünf Stunden spannte Grandits einen Bogen vom Ernteprozess von Jute bis hin zur prekären Lage der Kleinbauern und Kleinbäuerinnen in Indien und Bangladesch. Sie würden nämlich „redlichst arbeiten, aber Opfer eines Weltwirtschaftssystems, das wir verursacht haben“, so Grandits damals. Von 11.40 Uhr bis 16.30 Uhr stand sie hinter dem Rednerpult. Je länger sie sprach, desto weniger Zwischenrufe wurden registriert.

Grüne verzögern 1993 Abstimmung zu Tropenholz

In der Parlamentsdebatte 1993 hat der Klub der Grünen einen Redemarathon gestartet, um eine geplante Abstimmung zur Abschaffung der Kennzeichnungspflicht für Tropenholz zu verzögern.

Rekordrede mit drei Vorsitzenden

Dass sie überhaupt so lange reden konnte, verdankte sie Traubenzucker, den zustimmenden Worten aus ihrem Klub und ihrer Expertise bei der Entwicklungspolitik. So sei ihr inhaltlich nie der Stoff ausgegangen, sagt die Ex-Politikerin. Allerdings beantragte sie aus „physiologischen Gründen“ eine zweiminütige Sitzungsunterbrechung. Zuvor hatte ihr ÖVP-Mandatarin Ingrid Tichy-Schreder einen Kaffee hingestellt. „Ich musste aufs Klo“, erinnert sich Grandits. SPÖ-Nationalratspräsident Heinz Fischer sagte aber: Erst wenn die Abgeordnete die Rede beendet hat, wird er die Sitzung unterbrechen – was wenig später passierte.

Nach den fünf Stunden stellten SPÖ und ÖVP einen Antrag auf Schluss der Jute-Debatte, um einen Schlussstrich zu ziehen. Weitere Filibuster sollten verhindert werden. Aber die Geschäftsordnung sah und sieht auch heute noch vor, dass selbst bei einem Schluss der Debatte jeder Klub noch einen Redner bzw. eine Rednerin melden darf. So geschah es auch, dass sich Petrovic hinter das Pult stellte. In der Zwischenzeit hatte Fischer den Vorsitz dem Zweiten Nationalratspräsidenten Robert Lichal (ÖVP) übergeben. Auch die Dritte Nationalratspräsidentin Heide Schmidt (FPÖ/LIF) leitete an diesem Tag die Sitzung mehrmals.

Madleine Petrovic von den Grünen während des Redemarathons im Parlament am 12. März 1993.
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Wenig zu besprechen gab es in der Plenarwoche im März 1993 nicht

Petrovic legte mit ihrem Filibuster gleich einen neuen Rekord hin. Mit zehn Stunden und 35 Minuten ließ sie ihren Fraktionskollegen Walter Geyer, der fünf Jahre zuvor acht Stunden und 55 Minuten über das Luftreinhaltegesetz für Kesselanlagen gesprochen hatte, hinter sich. Für ihre Rede habe sie auch Literatur aus der Parlamentsbibliothek geholt, um noch mehr Inhalt in die Debatte zu packen, sagt Petrovic heute. Dass sie in zehneinhalb Stunden dann doch manchmal von der Jute abgewichen ist, sei wohl unumgänglich gewesen.

Fischer „kämpfte“ mit Schlafsack

Petrovic fing am 11. März um 17.29 Uhr zu reden an und hörte am 12. März um 4.04 Uhr auf. „Früher haben wir im Parlament ja öfters in der Nacht verhandelt. Jetzt habe ich halt die ganze Nacht gesprochen“, so die Ex-Politikerin. Während sie selbst freilich nicht schlafen konnte, sah sie Abgeordnete, die versuchten, die richtige Schlafposition zu finden. Der Plenarsaal sei in den Nachtstunden nicht voll gewesen. Aber die Abgeordneten der anderen Klubs hätten sich abgewechselt, um im Fall des Falles die nötigen Abstimmungsquoren zu gewährleisten.

Auch Heinz Fischer glänzte mit seiner Anwesenheit, selbst dann, wenn er nicht den Vorsitz über Sitzung führte. Ein Parlamentspräsident dürfe nur in „extremen Ausnahmefällen“ das Hohe Haus verlassen, betont der frühere Parlamentspräsident im ORF.at-Interview. Deshalb habe er für „die langen Nächte“ unter seinem Schreibtisch im Parlamentsbüro einen Schlafsack deponiert. Wenn er den Vorsitz in den Nachtstunden an Lichal oder Schmidt abgab, zog sich Fischer zurück und „kämpfte“, wie er selbst sagt, mit seinem Schlafsack.

Robert Lichal, Heinz Fischer und Heide Schmidt 1993
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Robert Lichal, Heinz Fischer und Heide Schmidt teilten sich ihre Ruhezeiten während der langen Nacht gut ein

Den Filibuster wollte Fischer nicht kommentieren. „Nur so viel: Viele waren am Ende genervt“, so das frühere Staatsoberhaupt, denn das Filibustern sei „ja nicht ein Ausdruck eines Mitteilungsbedürfnisses, sondern ein Mittel, meistens der Opposition, um Abstimmungen zu blockieren“. Grandits erinnert sich hingegen, dass viele Abgeordnete und Außenstehende ihr und dem Klub Respekt gezollt haben. „Es gab natürlich auch reichlich Kritik, weil wir über Jute diskutieren, was ja überhaupt nicht außer Zweifel stand.“

Unruhe im Parlament: „Totalitärer Trieb“

Nach Petrovic schloss Fischer die Jute-Debatte, doch damit endete der Redemarathon noch nicht. Grünen-Abgeordnete Langthaler brachte im Zuge der nächsten Debatte, in der es tatsächlich um das Tropenholz ging, eine Dringliche Anfrage an den damaligen Bundeskanzler Franz Vranitzky ein. Die 102 Einzelfragen begründete die Mandatarin mehr als fünf Stunden lang. Die vielen Zwischenrufe, die die Stenografinnen und Stenografen damals im Protokoll notierten hatten, zeichnen ein Bild der Unruhe, die sich im Plenarsaal nach einer eher ruhigen Nacht breitgemacht hat.

Der Rekordhalter

Werner Kogler (Grüne) hält bis heute den Rekord für die längste Rede im Parlament: Am 17. Dezember 2010 um 2.00 Uhr in der Früh beendete Kogler nach zwölf Stunden und 42 Minuten seine Rede im Budgetausschuss. Er wollte gegen das Budget von SPÖ und ÖVP protestieren. Zugleich löste Kogler nach mehr als 17 Jahren Parteikollegin Petrovic auf dem Filibuster-Thron ab.

Selbst der Nationalratspräsident musste nun öfters eingreifen. So sagte Fischer, nachdem er Langthaler bereits einen Ruf zur Sache (Mandatare und Mandatarinnen müssen zum Verhandlungsgegenstand sprechen) erteilt hatte: „Frau Abgeordnete, Sie werden es mir überlassen, die Unterscheidung zu treffen zwischen der Begründung einer Anfrage und einem offensichtlichen Filibustern.“ Die Koalition ließ sich ihren Frust anmerken. „Das ist Ihr totalitärer Trieb“, hielt Andreas Khol (ÖVP) fest. Peter Schieder (SPÖ): „Das hat nichts mit der Dringlichen zu tun.“

Um 9.33 Uhr war für Langthaler jedenfalls Schluss und Vranitzky, der mehrere Stunden auf der Regierungsbank saß, durfte ran, um die 102 Fragen zur Tropenholznovelle zu beantworten. Zu Beginn kritisierte er allerdings, dass sich die Grünen-Abgeordneten „am Freitag anschicken, die Tagesordnung von Mittwoch zu erledigen“. Kaum jemand würde den Grünen abnehmen, dass es ihnen um die Sache gehe, so Vranitzky. Die Rücknahme der Kennzeichnungspflicht argumentierte der Kanzler mit den Drohungen der betroffenen Länder: „Mit einem Schlag waren damit Milliardenaufträge für österreichische Firmen infrage gestellt.“

Zähes Ende mit 14 Untersuchungsausschüssen

Mit der anschließenden Plenumsdebatte waren Filibuster nicht mehr möglich. Die Redezeit pro Abgeordneten bzw. Abgeordnete betrug nämlich „nur“ 15 Minuten. Das konnte die Grünen freilich nicht daran hindern, alle zehn Klubmitglieder nach vorn zu schicken. Unter den Abgeordneten befanden sich neben den drei Marathonrednerinnen etwa der spätere Gesundheitsminister Rudolf Anschober, Johannes Voggenhuber und Terezija Stoisits, die Jahre später als erste Grüne Volksanwältin bestellt werden sollte.

Nach der Debatte und einer längeren Pause stellten die Grünen noch 14 Anträge, um 14 Untersuchungsausschüsse einzusetzen. Die Idee war, dass man zu jedem Antrag eine Verhandlung startet. Das ging jedoch nicht durch. Denn SPÖ und ÖVP stimmten dafür, dass man alle Anträge gemeinsam behandelt. „Es hat in der Zweiten Republik keinen einzigen Fall gegeben, dass an einem Tag von einer einzigen Fraktion Anträge auf Einsetzung von mehr als zwei Untersuchungsausschüssen gestellt wurden“, hielt die Dritte Nationalratspräsidentin Schmidt fest.

Die Grünen versuchten immer noch, die Abstimmung mit Debatten zur Geschäftsordnung zu verzögern und den Punkt „Tropenholzgesetz“ von der Tagesordnung zu reklamieren. Doch am weiteren Fahrplan gab es nun nichts mehr zu rütteln. Die 107. Sitzung, die am 10. März um 11.00 Uhr begonnen hatte, wurde am 12. März um 16.16 Uhr geschlossen. In der fünf Minuten später gestarteten 108. kam es am Abend zur Tropenholzdebatte. Wegen der vereinbarten Redezeiten waren keine Filibuster möglich. Die Abschaffung der Kennzeichnungspflicht wurde kurz vor 23.00 Uhr besiegelt. Eine Stunde später sprach Nationalratspräsident Fischer die erlösenden Worte: „Damit ist die Tagesordnung erschöpft.“

Der Plenarsaal im frisch renovierten Parlament
ORF.at/Roland Winkler
Die Debatten im Parlament sind von Anfang bis Ende penibel strukturiert: Kurze Reden sollen für Abwechslung sorgen

Anfang vom Ende der langen Reden

Die Reden von Grandits, Petrovic und Langthaler blieben freilich nicht ohne Folgen. Schon während der Debatten kristallisierte sich heraus, dass man sich die Geschäftsordnung des Nationalrats anschauen werde. Noch im Juli desselben Jahres wurde die Redezeit jedes Abgeordneten im Nationalrat auf maximal 40 Minuten beschränkt. Für den Fall, dass keine Redezeiten beschlossen wurden (wie bei der Jute-Debatte), gilt eine Dauer von maximal 15 Minuten pro Mandatar bzw. Mandatarin. Die Änderung sei eine „logische Konsequenz der langen Nacht“ gewesen, ohne dabei die Redefreiheit zu berühren, so Fischer.

Über die Jahre wurden die Redezeiten weiter nach unten geschraubt. Heute dürfen Abgeordnete während einer Debatte grundsätzlich nicht länger als 20 Minuten sprechen. In Sonderfällen kann die Dauer erhöht, aber auch auf fünf Minuten beschränkt werden. Weil die Klubs gemäß ihrer Mandatsstärke bestimmte „Blockredezeiten“ erhalten, herrschen auch interne Regeln. Denn spricht ein Mandatar einmal länger, als ihm der Klub zugeteilt hat, „verbraucht“ er die Redezeit der Kollegin.

In den nicht öffentlichen Fachausschüssen, in denen Gesetze beraten werden, gelte hingegen noch keine starre Redeanarchie, hieß es vom Rechtsdienst des Parlaments gegenüber ORF.at. Für gewöhnlich würden sich die Klubs im Vorfeld einer Sitzung auf einen Zeitrahmen einigen. Will man die Redezeit eines einzelnen Abgeordneten während einer Beratung begrenzen, brauche es einen Zweidrittelbeschluss der anwesenden Ausschussmitglieder, so die Rechtsfachleute.

„Dieses Gesetz fand keine Anwendung“

Und was wurde eigentlich aus dem Tropenholzgesetz? 1993 verlor es seine wichtigste Komponente: die Kennzeichnungspflicht. Dafür, so argumentierten SPÖ und ÖVP, wurde das freiwillige Gütezeichen für Holz aus nachhaltiger Nutzung aufgewertet. 24 Jahre später wurde das gesamte Gesetz mit Stimmen von SPÖ und ÖVP aber aufgehoben. Die Begründung lautete: Auf europäischer Ebene gibt es Maßnahmen zur Bekämpfung illegalen Holzeinschlags. Zudem: „Dieses Gesetz fand seit seiner Erlassung keine Anwendung.“ In der Plenardebatte im Jahr 2017 kamen die Wörter „Tropenholz“ oder „Jute“ nicht mehr vor.