Eine Frau entfernt die Blütenblätter einer Blume
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Veganes Leder

„Zweites Leben“ für indische Blumen

Blumen sind Teil Indiens. Kaum eine Zeremonie kommt ohne Rosen, Ringelblumen und Co. aus. Doch in den meisten Fällen landet der florale Schmuck am Ende im indischen Gewässer – entweder weil er nicht mehr gebraucht wird oder als Schlussakt eines Rituals. Der Abfall belastet allerdings die Umwelt, weswegen eine nachhaltige Alternative gefunden wurde.

In Kanpur, bekannt als „Lederstadt der Welt“, wird den Blumen ein „zweites Leben“ eingehaucht. Unter der Bezeichnung „Fleather“ wird der Abfall seit 2021 nämlich zu einem veganen Leder verarbeitet. Erste aus Fleather hergestellte Protoypen sind nach Angaben des indischen Start-ups Phool äußerst vielversprechend. „Die Experimente konzentrieren sich ganz darauf, wie wir die Faserdichte erhöhen können, um ein stärkeres Material zu erhalten“, wird Nachiket Kuntla, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung, in der BBC zitiert.

Gefühlt sei man zehn Prozent vom „finalen Produkt“ entfernt, betonte der Gründer des Unternehmens, Ankit Agarwal. Aber selbst wenn man auf den großen Durchbruch noch wartet, erregt Fleather schon jetzt die internationale Aufmerksamkeit. Denn das Produkt war dieses Jahr schon Finalist beim Earthshot Prize. Damit werden bahnbrechende Umweltlösungen ausgezeichnet.

Phool, das sich selbst als Blumenrecycling-Technologieunternehmen sieht, arbeitet Medienberichten zufolge mit dem Konzern PVH, der Muttergesellschaft von Calvin Klein und Tommy Hilfiger, an einem Fleather-Pilotprojekt. Auch ein Luxusautohersteller und ein weiterer Modehändler hätten ebenfalls Interesse an Fleather gezeigt, so Phool.

Blumenschmuck am Fluss Ganges in Indien
AP/Rajesh Kumar Singh
Blumen spielen in Indien eine wichtige Rolle – oft landet der florale Schmuck im Wasser

Alternative zu herkömmlicher Lederindustrie

Vereinfacht gesagt ist Fleather eine auf Pflanzen- und Pilzbasis hergestellte Alternative zur herkömmlichen Lederindustrie, die auf Tierhaut oder auf Kunststoff setzt. Schon in den vergangenen Jahren hatten einige Unternehmen angekündigt, sich stärker auf nachhaltige Alternativen aus Biomaterialien zu fokussieren.

So brachte der Sportartikelhersteller Nike in Zusammenarbeit mit dem Londoner Unternehmen Ananas Anam Turnschuhe aus Ananasblattleder auf den Markt. In Mexiko stellt das Start-up Desserto Material aus Kaktusfeigen her. Auch Designerin Stella McCartney schielt nun vermehrt auf Pilzleder.

Fachleute weisen allerdings darauf hin, dass bei einigen Alternativen im Produktionsprozess Bindemittel verwendet werden, die biologisch teilweise nicht abbaubar sind. Fleather hingegen, so argumentiert die globale Initiative für nachhaltige Mode Fashion For Good, sei zu 100 Prozent biologisch abbaubar. Zudem habe das Leder aus Biomaterial „die gleiche Haptik, das gleiche Gefühl und die gleiche Zugfestigkeit wie das Leder, das wir kennen. Aber das alles zu drei Vierteln der Kosten von Leder“, sagte Agarwal im Gespräch mit „The Hindu“.

Blumen und Plastikmüll im Ganges in Indien
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Bevor Rosen, Ringelblumen und Co. im Gewässer landen, sollten die Abfälle anderweitig genutzt werden, so die Idee

Von Räucherstäbchen zu „lederartigen“ Blumenabfällen

So interessant Fleather an sich ist, so spannend ist auch die Geschichte dahinter. Während des hindustischen Festes Makar Sankranti im Jahr 2015 hatte Agarwal mit einem Freund beobachtet, wie Menschen das schmutzige Wasser des Ganges tranken. Gleichzeitig bemerkten sie, wie örtliche Tempel Tausende Blumen mit Pestizidbeschichtung in den Fluss kippten. Während der florale Schmuck also verrottete, setzte er auch giftige Stoffe frei. Nach Ansicht von Agarwal musste das Problem gelöst werden.

Die Idee folgte: Der Blumenabfall wurde zunächst zu Räucherstäbchen verarbeitet. Jeden Morgen fuhren Lastwagen von Phool (auf Deutsch Blume, Anm.) zu den Tempeln und Moscheen. Dort wurden die Blumen eingesammelt, bevor sie in den Fluss gekippt wurden. In der Phool-Fabrik pflückten die Arbeiterinnen die Blüten und ließen sie trocknen. Die getrockneten Blütenblätter wurden anschließend pulverisiert und zu einem Teig mit Ölen verarbeitet, der wiederum zu Räucherstäbchen gerollt wurde.

Indische Arbeiterinnen entfernen Blütenblätter von Blumenkränzen
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Die Arbeiterinnen hatten zunächst aus Blütenblättern Räucherstäbchen produziert

Nach einiger Zeit stellte sich jedoch heraus, dass man die Blüten auch anders verwenden konnte. Denn auf den Blumenabfällen, die auf dem Fabriksboden lagen, hatte sich eine weißliche Schicht gebildet. Laut Entwicklungsleiter Kuntla hatte eine Art pilzartiger Mikroorganismus versucht, auf den Blüten zu wachsen und sich von der Zellulose in den Blüten zu ernähren. Nach weiteren Experimenten stellte die Forscher und Forscherinnen ein styroporartiges Material fest, das zum Beispiel als Verpackungsmaterial verwendet werden könnte. „Jemand im Team hatte aber das Gefühl, dass es sich lederartig anfühlt“, so Kuntla.

Rohstoff geht nicht aus

Heute werden laut Firmenangaben täglich mehrere Tonnen Blumenabfälle eingesammelt. Derzeit produziert man allerdings nur so viel Fleather, um etwa 2.250 Brieftaschen herstellen zu können, so der Forschungsleiter. Um die Produktion zu steigern, müsse man herausfinden, wie man größere Fleather-Platten bei gleichbleibender Qualität anbauen kann. Bisher habe man lediglich eine Größe von knapp einem Quadratmeter erreicht.

Zumindest, was den Rohstoff an sich betrifft, gibt es offenbar keine großen Probleme. In dem Land mit 1,4 Milliarden Menschen fallen pro Jahr bis zu 800 Millionen Tonnen Blumenmüll an. Ein Großteil landet in den großen und kleinen Gewässern Indiens.