Der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelenskiy
Reuters/Ukrainian Presidential Presser
Treffen mit Biden

Selenskyj in Washington eingetroffen

Im Zuge seiner ersten Auslandsreise seit Beginn des russischen Angriffskrieges ist der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in den USA eingetroffen. Die Erwartungen an den Besuch sind groß: Kiew hofft, die Karten im Krieg mit einer nun freigegebenen Lieferung des Patriot-Flugabwehrsystems durch die USA neu zu mischen. Auch für weitere Militärhilfen dürfte sich Selenskyj starkmachen. In Russland gab man sich indes kritisch.

In Washington wird er zunächst US-Präsident Joe Biden im Weißen Haus treffen, anschließend sind eine Pressekonferenz und danach eine Rede vor dem Kongress geplant. Selenskyj hatte bereits im März eine Videoansprache vor dem US-Kongress gehalten. Damals hatte er die Einrichtung einer Flugverbotszone zum Schutz der Ukraine gefordert.

Selenskyj hatte vor der Abreise bereits festgelegt, worum es ihm geht: Ziel seiner eintägigen Visite in Washington sei die Stärkung der Stabilität und Verteidigungsfähigkeit seines Landes, schrieb er auf Twitter. Die USA dürften den Wünschen der Ukraine – zumindest teilweise – nachkommen.

Luftabwehrsystem Patriot wird geliefert

Im Zuge eines 1,85 Mrd. Dollar (rund 1,74 Mrd. Euro) umfassenden Hilfspakets wird erstmals auch das Luftabwehrsystem Patriot geliefert. Damit könne die Ukraine „Marschflugkörper, ballistische Kurzstreckenraketen und Flugzeuge in einer deutlich größeren Höhe abschießen als bei bislang gelieferten Luftabwehrsystemen“, sagte US-Außenminister Antony Blinken im Vorfeld von Selenskyjs Besuch.

Patriot-Flugabwehrsystem
AP/Czarek Sokolowski
Das Patriot-System wird Fachleuten zufolge einen großen Unterschied für die Ukraine ausmachen

Die Patriots sollen der Ukraine vor allem dabei helfen, die erstarkten Angriffe auf die Energieinfrastruktur des Landes abzuwehren, die Russland seit Wochen führt. Mit dem System würden Infrastruktur und Bevölkerungszentren Fachleuten zufolge besser gegen zerstörerische russische Luftangriffe geschützt, während sich die Bewegungsfreiheit der ukrainischen Streitkräfte auf dem Boden vergrößern würde.

Offene Fragen

Das hat seinen Preis: „Eine Patriot-Rakete kostet etwa drei Millionen Dollar – dreimal so viel wie eine Rakete in einem NASAMS (National Advanced Surface-to-Air Missile System)“, schreibt die BBC. Die Sicherheitsanalysten Michael Weiss und James Rushton schrieben auf Yahoo!News von noch höheren Kosten pro Rakete: Je nach Bauart betragen sie zwischen drei und sechs Mio. Dollar.

Unklar ist, welche Komponenten des Patriot-Systems geliefert werden. Die PAC-2-Version umfasst Langstrecken-Boden-Luft-Raketen mit einer Reichweite von rund 160 Kilometern zur Abwehr von Flugzeugen und Marschflugkörpern. Die kleinere PAC-3-Variante habe eine geringere Reichweite von etwa 30 Kilometern.

Fraglich ist auch, wie schnell das System von der ukrainischen Armee genützt werden kann – und wo die ukrainische Armee auf das System geschult wird. Naheliegend und wahrscheinlich ist, dass Ukrainer – wie auch bei anderen Waffensystemen schon praktiziert – in Deutschland ausgebildet werden, beispielsweise auf dem Truppenübungsplatz Grafenwöhr in Bayern.

Weitere Forderungen erwartet

Die USA sind jedenfalls darauf bedacht, der Ukraine Waffen zu liefern, mit denen sie keine Ziele in Russland angreifen können – auch weil man damit Vorwürfe und eine Eskalation aus Moskau verhindern will. Das Nachrichtenmagazin „Politico“ rechnet in einer Analyse allerdings damit, dass ukrainische Forderungen nach weiteren Waffenlieferungen das Treffen mit Biden dominieren werden.

„Politico“ schreibt mit Verweis auf Insiderinformationen, dass die ukrainische Delegation bei einem Treffen mit Biden und dem nationalen Sicherheitsteam der USA erneut um ballistische Kurzstreckenrakete vom Typ ATACMS sowie um Grey-Eagle- und Reaper-Drohnen bitten werde. Die Ukraine sieht jene Waffen im Kampf gegen Russland als wesentlich an.

„Politico“: Weißes Haus um zukünftige Hilfsgelder besorgt

Die USA dürften den Forderungen dem Vernehmen nach aber nicht entsprechen. „Das Weiße Haus von Biden hat die Zusendung des ATACMS rundweg abgelehnt. Die Kosten dafür sind hoch, sagen US-Beamte“, schreibt „Politico“. So eine Waffenlieferung könnte Kreml-Chef Wladimir Putin zu einer weiteren Eskalation verleiten, so die Befürchtung der USA.

Die USA haben der Ukraine unter Biden bisher militärische Hilfe im Volumen von 20 Milliarden Dollar gewährt. Dessen ungeachtet hat Selenskyj den Westen wiederholt aufgefordert, weitere Hilfe zu leisten und auch Kampf- und Schützenpanzer westlicher Bauart zu liefern.

Wolodymyr Selenskyj spricht vor dem US Kongress
AP/J. Scott Applewhite
Selenskyj wandte sich in der Vergangenheit per Video an den Kongress – am Mittwoch folgt der erste persönliche Besuch

Biden steht nach den Midterms vor einer Herausforderung im Kongress: Obwohl die Mitarbeiter des Weißen Hauses „ihre Bedenken öffentlich herunterspielen“, seien sie besorgt, was die bevorstehende Übernahme des Repräsentantenhauses durch die Republikaner für die Hilfsgelder für Kiew bedeute, schreibt „Politico“ außerdem. Der womöglich nächste Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses könnte der Republikaner Kevin McCarthy werden. McCarthy kündigte bereits an, der Ukraine keinen „Blankoscheck“ mehr auszustellen. Ähnliches ertönte aus anderen Teilen der Partei.

Für die Ukraine sind weitere Hilfen jedenfalls essenziell, um durch den Winter zu kommen. Nach Rückschlägen auf dem Boden ist Russland in den vergangenen Kriegswochen verstärkt dazu übergegangen, ukrainische Städte mit Raketen zu beschießen und dabei besonders die kritische Infrastruktur ins Visier zu nehmen. Millionen Menschen sind bei Minusgraden ohne Strom und Heizung.

Kritik aus Russland

Russland kritisierte Selenskyjs USA-Reise und die angekündigten neuen Waffenlieferungen. „Das alles führt zweifellos zu einer Verschärfung des Konflikts und verheißt an sich nichts Gutes für die Ukraine“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow der russischen Nachrichtenagentur Interfax zufolge. Er erwarte nicht, dass Selenskyj nach seiner Reise eher verhandlungsbereit gegenüber Moskau sein werde. Peskow kritisierte, die Waffenlieferungen würden nicht nur fortgesetzt, sondern um neue Systeme erweitert.

Deutschland begrüßte die Lieferung von US-Raketenabwehrsystemen des Typs Patriot an die Ukraine. Regierungssprecher Steffen Hebestreit betonte aber zugleich, dass Deutschland nicht die Absicht habe, solche Systeme ebenfalls an die Ukraine abzugeben. Nach den drei in Polen stationierten Patriots stünden Deutschland derzeit keine weiteren Systeme dieser Art zur Verfügung.