Innenpolitisch ist die Koalition der – von Netanjahu im Verlauf der Jahre immer weiter nach rechts gerückten konservativen – Likud-Partei mit den radikalen Siedlern Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotritsch eine absolute Zäsur. Ben-Gvir, der wegen Unterstützung einer jüdischen Terrororganisation rechtskräftig verurteilt ist, wird Innenminister – mit so weitreichenden Befugnissen wie kein Amtsvorgänger. Das Ministerium wird in „Ministerium für nationale Sicherheit“ umbenannt.
Der Chef der ultraorthodoxen Schas-Partei, Arie Deri, 2000 rechtskräftig wegen Bestechlichkeit als Innenminister verurteilt, wird in der Hälfte der Legislaturperiode das Finanzministerium übernehmen. Für ihn musste ein eigenes Gesetz verabschiedet werden, da er nach geltendem Recht aufgrund der Verurteilung kein Ministeramt ausüben dürfte.

Netanjahu vor Gericht und auf Premiersessel
Netanjahu selbst steht seit Monaten wegen Korruptionsvorwürfen vor Gericht und wird parallel dazu Regierungschef sein. Unklar ist, was im Fall einer Verurteilung passiert. Ähnlich wie Donald Trump die US-Republikaner hat Netanjahu seine Likud-Partei in der Hand und versperrt dieser politische Alternativen.
Denn außer den Ultrareligiösen und den Rechtsaußen- bis rechtsextremen Parteien von Smotritsch und Ben-Gvir gibt es keine Partei mehr, die zu einer Kooperation mit Netanjahu bereit ist. Diese Koalition erhielt allerdings auch eine – für israelische Verhältnisse deutliche – Mehrheit von 64 der 120 Mandate in der Knesset.
Umbau des Rechtsstaats
Die neue Regierung will das Verhältnis von Exekutive, Legislative und Judikative in wichtigen Bereichen verändern: Die Bestellung der Höchstrichterinnen und -richter soll politischer werden und die Regierungsparteien das entscheidende Gewicht dabei bekommen. Ein Gesetz ist geplant, das eine Anklage gegen einen amtierenden Regierungschef verhindern soll – das wäre quasi Netanjahus Rettung. Bisher hieß es freilich, es solle nicht rückwirkend gelten.
Vor allem aber ist eine Überwindungsklausel geplant: Gesetze, die vom Höchstgericht gekippt werden, sollen durch einen neuerlichen Beschluss in der Knesset – mit welcher Mehrheit, ist noch unklar – gegen das Höchstgericht immunisiert werden können. Viele Fachleute in Israel warnen diesbezüglich vor einem De-facto-Ende des Rechtsstaats.

Gefahr für inneren Zusammenhalt?
Welche Politik diese Regierung tatsächlich verfolgen wird, bleibt abzuwarten, aber die Tendenzen sind klar und drohen, die traditionell nicht gerade wenigen Fragmentierungen in der israelischen Gesellschaft zu verstärken.
Da ist einerseits das Ringen zwischen Säkularen und Religiösen: Hier stehen weitere Einschränkungen bei öffentlichem Verkehr und Öffnungszeiten am Schabbat bevor. Es droht aber vor allem eine weitere Abkapselung und verbesserte Finanzierung des religiösen Schulsektors, mit Folgen bis auf den Arbeitsmarkt und für das Steueraufkommen: Ultraorthodoxe lernen religiöse Fächer, aber kaum Naturwissenschaften.
Tim Cupal (ORF) zur neuen Regierung in Israel
Tim Cupal spricht über die schwierige Regierungsbildung in Israel.
Wenn sie überhaupt arbeiten – das traditionelle Ideal sieht das Lernen von Bibel und Talmud als vorrangig an –, dann aufgrund ihrer Bildung oft in entsprechend schlecht bezahlten Jobs. Das schadet der gesamten israelischen Wirtschaft. Und in die Staatskasse fließen viel weniger Steuern, während gleichzeitig die Sozialausgaben entsprechend hoch sind.
Dazu kommt, dass die faktisch ohnehin nur geringe Mobilisierung Orthodoxer für die israelische Armee auf Drängen der religiösen Parteien praktisch wieder ganz abgeschafft werden soll. Israels Armee braucht allerdings dringend Rekruten. Hier und bei der Steuerlast tragen die Säkularen und traditionell Religiösen die Last praktisch allein – und sorgen für die militärische und soziale Sicherheit der anderen Gruppe. Dieses Ungleichgewicht wird zu einer immer größeren Bedrohung des Zusammenhalts.

Rückschlag für arabische Israelis
Das Zusammenleben von Juden und Arabern in Israel: Dieses ist ohnehin dauerbelastet. Doch arabische Israelis sind nicht zuletzt enorm wichtig für die Wirtschaft, ohne sie würde das Gesundheitssystem – von Ärztinnen und Ärzten bis Pflegekräften – zusammenbrechen.
Doch Smotritsch und Ben-Gvir sehen in den rund 20 Prozent der Bevölkerung eine Gefahr für ihre rein jüdisch-nationalistische Sicht auf Israel. Ben-Gvir sprach sich unter anderem dafür aus, Araber, etwa wenn sie Soldaten angreifen, und arabische Knesset-Abgeordnete wegen „Illoyalität“ gegenüber Israel auszuweisen. Dabei hatte in der nun abtretenden Regierung erstmals eine arabische Partei mitgewirkt.
Risiko Siedlungsbau
Außenpolitisch wird diese Regierung ebenfalls anecken. Erklärtes Ziel von Smotritsch und Ben-Gvir ist ein Ausbau der Siedlungen im besetzten Westjordanland. Die Palästinensische Autonomiebehörde ist intern extrem geschwächt und hat Vertrauen wie Autorität weitgehend verloren. Die Nachfolge des 87-jährigen herzkranken Präsidenten Mahmud Abbas ist völlig ungeklärt. Die radikalislamische Hamas wird wohl versuchen, bei einem Machtvakuum die Herrschaft auch im Westjordanland an sich zu reißen. Das ist ein bedrohliches Szenario für Israel.
Eine offensive Siedlungspolitik könnte in dieser Gemengelage mit enormen Frustrationen auf palästinensischer Seite rasch zu einer neuen Intifada, einem breiten Volksaufstand, führen. Diese Rechtsaußen-Regierung wird freilich von der eigenen Wählerschaft von Beginn an unter Druck stehen, Versprochenes umzusetzen. Eine Eskalation erscheint da schwer vermeidlich.

Biden als „Bumerang“?
International wird Netanjahu mit seiner Regierungsmannschaft und seinem Programm jedenfalls auf Ablehnung stoßen. Beim wichtigsten Alliierten, den USA, trifft Netanjahu auf Präsident Joe Biden – und das könnte sich wie ein Bumerang anfühlen: Biden wird kaum vergessen haben, wie sehr Netanjahu ihn als Vizepräsidenten gemeinsam mit Präsident Barack Obama selbst in aller Öffentlichkeit schnitt und sich – für einen israelischen Regierungschef ungewöhnlich – klar auf die Seite der Republikaner stellte. Die Kooperation wird deshalb nicht aufhören, aber sie wird weniger eng und mit spürbarer Zurückhaltung erfolgen.
Netanjahus außenpolitischer Traum wäre es, nach den unter US-Präsident Trump gelungenen Friedensabkommen mit Bahrain und den Vereinigten Arabischen Emiraten eine Normalisierung mit Saudi-Arabien zu erreichen. Netanjahu werde versuchen, sich Kronprinz Mohammed bin Salman als Vermittler zu den USA anzubieten. Ob Netanjahu das angesichts der Vorgeschichte mit Obama und Biden gelingen kann, ist unklar.
Iran als mögliches verbindendes Element
Es hängt wohl vor allem von den Entwicklungen in einem anderen Krisenherd ab: dem Iran. Hier überschneiden sich die Interessen Israels, der USA und Saudi-Arabiens grundsätzlich. Alle drei wollen das – aktuell durch die Protestbewegung unter Druck stehende – Regime in Teheran zumindest geschwächt sehen und vor allem den Aufstieg zur Atommacht verhindern. Aber: Während Netanjahu eine in Verhandlung befindliche Neuauflage des Atomabkommens, das Trump unter Netanjahus Beifall aufkündigte, ablehnt, strebt Biden diese an.
Die Lage an den Grenzen zu Syrien und dem Libanon könnte sich angesichts des Einflusses des Iran via Schiitenmiliz Hisbollah in diesen Ländern ebenfalls zuspitzen.
Auch das Verhältnis Israels zu Europa wird mit dieser Regierung wohl nicht einfacher werden. In der EU gibt es in der Nahost-Politik ohnehin nur einen minimalen gemeinsamen Nenner. Netanjahus Comeback wird Rechtspopulisten in der EU, insbesondere Viktor Orban in Ungarn, jedenfalls Auftrieb geben – und möglicherweise die eine oder andere Gelegenheit, sich EU-intern querzulegen.

Ein Staat, zwei Staaten
Alles deutet derzeit darauf hin, dass den Israelis innen- wie außenpolitisch ungewisse Zeiten bevorstehen – noch ungewisser, als diese es ohnehin gewohnt sind. Direkt betroffen sind die Palästinenser. Denn eine Zweistaatenlösung rückt in noch weitere Ferne – eine gangbare Alternative gibt es aber auch nicht. Wie aber zuletzt auch die Solidarisierung arabischer Fans bei der Fußball-WM in Katar zeigte, die palästinensische Flaggen in die Höhe hielten: Der israelisch-palästinensische Konflikt ist weiter eine der zentralen ungelösten Gerechtigkeitsfragen in der Region.