Rettungsschiff „Geo Barents“
Reuters/Doctors Without Borders
NGO entrüstet

Kritik an Italiens Kodex für Rettungsschiffe

Der Ende Dezember von der italienischen Regierung beschlossene Verhaltenskodex für Rettungsschiffe sorgt für Wirbel. Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen, SOS Humanity und Sea-Watch warnen vor den tödlichen Folgen des neuen Dekrets. Rom hatte unter anderem beschlossen, dass Schiffe nach einer Seenotrettung „unverzüglich“ einen Hafen ansteuern müssen, anstatt noch länger nach weiteren Flüchtlingsbooten zu suchen.

Die NGOs müssen zudem bereits an Bord ihrer Schiffe die geretteten Migranten und Migrantinnen darüber informieren, dass sie überall in der Europäischen Union um Schutz bitten können. Bei Zuwiderhandlung droht den Kapitänen eine Geldstrafe von bis zu 50.000 Euro. Bei wiederholten Verstößen kann das Schiff beschlagnahmt werden.

„Das neue Dekret der italienischen Regierung ist eine Aufforderung zum Ertrinkenlassen“, sagte Oliver Kulikowski, Sprecher von Sea-Watch, in einer Aussendung. „Schiffe in den Hafen zu zwingen verstößt gegen die Pflicht zur Rettung, sollten noch weitere Menschen in Seenot sein. Wir werden uns auch diesem Versuch entgegenstellen, zivile Seenotrettung zu kriminalisieren und Flüchtende ihrer Rechte zu berauben.“

Dass Kapitäninnen und Kapitäne ziviler Schiffe von Geretteten eine Erklärung über ihre Bereitschaft zur Beantragung internationalen Schutzes einholen müssen, entbehre jeder rechtlichen Grundlage, heißt es in der Aussendung weiter.

SOS Humanity ortet „weitere Behinderung“

SOS Humanity übt in einem Statement gegenüber ORF.at ebenso scharfe Kritik am neuen Dekret. „Das internationale Seerecht und internationale Menschenrechtskonventionen setzen einen klaren Rechtsrahmen für Such- und Rettungsoperationen auf dem Mittelmeer, an die sich zivile Seenotrettungsorganisationen strikt halten. Im Kontrast dazu beobachten wir seit Jahren, wie staatliche Akteure ihre Pflichten nicht erfüllen und flüchtende Menschen ihrem Schicksal überlassen“, heißt es darin.

„Anstatt das eigentliche Problem anzugehen – Menschen vor dem Ertrinken auf der tödlichsten maritimen Fluchtroute der Welt zu retten – zielt das Dekret auf eine weitere Behinderung der Seenotrettung ab“, kritisierte SOS Humanity weiter. Die bisher bekannten Informationen zum Dekret würden „dem Kern internationalen Seerechts, welches die Pflicht zur Rettung bedingungslos festschreibt“, widersprechen.

MSF: „Strategie erhöht das Sterberisiko für Tausende“

Entrüstet reagierte auch die NGO Ärzte ohne Grenzen: „Wir werden gezwungen sein, die Hilfsgebiete im Mittelmeer ungeschützt zu lassen, was unweigerlich zu einem Anstieg der Zahl der Toten führen wird. Das Fehlen eines staatlichen Hilfssystems ist eine Lücke, die wir in den letzten Jahren zu füllen versucht haben. Aber wenn die Regierung unsere Aufgabe erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht, wer wird dann noch Leben im Mittelmeer retten?“, fragte Marco Bertotto, Leiter der italienischen Abteilung von Ärzte ohne Grenzen, in einem Interview mit der italienischen Tageszeitung „La Stampa“.

Riccardo Gatti, der für das von Ärzte ohne Grenzen betriebene Rettungsschiff „Geo Barents“ zuständig ist, warnte vor den negativen Auswirkungen des Regierungsdekrets. „Wenn es keinen Krankenwagen gibt, wird der Kranke nicht gerettet und er stirbt vielleicht. Seit Jahren wird versucht, die Arbeit der Rettungsschiffe im Mittelmeer zu stoppen. Diese Strategie erhöht das Sterberisiko für Tausende von Menschen exponentiell. Und es schaltet die einzigen Augen aus, die sehen, was passiert“, so Gatti.

Italiens Bischofskonferenz gegen Kodex

Die italienische Bischofskonferenz CEI zeigte sich ebenso entrüstet. Gian Carlo Perego, Erzbischof und Leiter der Kommission für Migration der italienischen Bischofskonferenz, meinte, Aspekte der Bestimmung stünden nicht mit internationalem Recht und Seerecht im Einklang.

„In der Sicherheitsverordnung steht kein Wort über die Sicherheit von Menschen, die sich in Gefahr befinden und fliehen. Dieser Erlass vergisst, dass es Menschen gibt, die sich auf dem Meer befinden, die unsicher sind und einen Landeplatz brauchen“, so der Erzbischof. Er meinte, wegen des Dekrets werde es zu einem Anstieg der Todesfälle auf See und zu einer höheren Zahl von Rückführungen nach Libyen kommen.

Seit ihrem Amtsantritt im Oktober 2022 nahm die italienische Regierung die Aktivitäten der Hilfsorganisationen ins Visier und beschuldigte sie, mit ihrer Arbeit Menschenhändlern zu nützen. Rund 102.000 Migranten sind im Jahr 2022 in Italien angekommen, wie Daten des Innenministeriums zeigen.

Meloni verteidigt Migrationspolitik

Die italienische Premierministerin Giorgia Meloni verteidigte bei einer Pressekonferenz am vergangenen Donnerstag die Migrationspolitik ihres Rechtskabinetts. Verdienst ihrer Regierung sei es, das Thema Migration wieder in den Mittelpunkt der politischen Agenda der EU-Mitgliedsstaaten gerückt zu haben, was Italien bisher nur „unzureichend“ getan habe.

Meloni forderte eine europäische Mission im Einklang mit nordafrikanischen Ländern, um Migrantenabfahrten in Richtung Europa zu stoppen und den Menschenhandel aktiv zu bekämpfen. Nur Flüchtlinge und nicht Wirtschaftsmigranten sollten in Europa umverteilt werden, erklärte Meloni. Sie forderte von den NGOs „Respekt für das internationale Recht“.

Tatsächlich muss gemäß dem Völkerrecht aber jeder Mensch in Seenot gerettet werden. Die Internationale Seeschifffahrts-Organisation (IMO) hält fest, dass „Überlebende von Notsituationen unabhängig von ihrer Nationalität oder ihrem Status und den Umständen, unter denen sie sich befinden, Hilfe erhalten“.