Itamar Ben-Gvir vor dem Felsendom in Jerusalem
APA/AFP/Minhelet Har-Habait (temple Mount Administration)
Wenige Tage im Amt

Gefährliche Zuspitzung in Jerusalem-Streit

Wenige Tage nach Amtsantritt sorgt der rechtsextreme israelische Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, für eine gefährliche Zuspitzung der Sicherheitslage im Nahen Osten. Ben-Gvir besuchte als Minister den Tempelberg in Jerusalems Altstadt, den umstrittensten und politisch sensibelsten Ort im Nahost-Konflikt. Die Reaktionen ließen nicht auf sich warten. Und der Koalitionspartner bereitete Regierungschef Benjamin Netanjahu den ersten außenpolitischen Rückschlag.

Der israelische Regierungschef Netanjahu äußerte sich zu dem Tempelberg-Besuch seines Ministers zunächst nicht. Ben-Gvir hatte den am Vortag angekündigten Besuch – er nannte dabei allerdings keinen Zeitpunkt – unmittelbar vor einer Regierungssitzung absolviert. Stunden später betonte das Büro Netanjahus gegenüber israelischen Medien, der Regierungschef sei dem „Status quo“ verpflichtet.

So wird die Regelung, die seit Eroberung Ostjerusalems durch Israel 1967 in Kraft ist, bezeichnet. Der Tempelberg steht unter muslimischer Verwaltung, über die Sicherheit wacht jedoch die israelische Polizei. Um Provokationen zu vermeiden, dürfen Juden – wie andere nicht muslimische Besucher – den Tempelberg zwar zu bestimmten Zeiten besuchen, aber dort nicht beten. Nationalistische Israelis brechen jedoch immer wieder bewusst das Gebetsverbot.

Gefährliche Zuspitzung in Jerusalem-Streit

Itamar Ben-Gvir, israelischer Minister für nationale Sicherheit, löst mit einem Besuch des Tempelberges in Jerusalem eine gefährliche Zuspitzung der Sicherheitslage im Nahen Osten aus.

Enorm aufgeladener Ort

Das Judentum verehrt den Tempelberg als seinen heiligsten Ort. Für Muslime ist der Hügel mit dem Felsendom und der Al-Aksa-Moschee die drittheiligste Stätte nach Mekka und Medina. Am Fuße einer Seite des Tempelbergs befindet sich die Westmauer, bekannt auch als „Klagemauer“. Es ist eine Stützmauer des von den Römern 70 n. Chr. zerstörten herodianischen Tempels.

Visiten israelischer Politiker auf dem Tempelberg, die in den Augen der palästinensischen Bevölkerung eine Provokation sind, haben eine lange Tradition und wurden in den letzten Jahren häufiger. Besonders nationalistische Politiker signalisieren ihrer Klientel damit, wofür sie stehen. Einer der Proponenten dieses Vorgehens war der – nicht religiöse – Ex-Premier Ariel Scharon. Er hatte sich ein Haus mitten im arabischen Teil der Altstadt gekauft und hatte mit seinem Besuch auf dem Tempelberg im Jahr 2000 die Zweite Intifada ausgelöst. Der Palästinenseraufstand dauerte etwa fünf Jahr an.

Im Mai 2021 markierte ein Gewaltausbruch in Ostjerusalem, insbesondere auf dem Tempelberg, den Auftakt zu einem elftägigen Krieg zwischen der Hamas und Israel.

Hamas: „Auftakt zu Eskalation“

Trotz der Warnungen von palästinensischer Seite betrat Ben-Gvir nun den Tempelberg. Die neue ultrarechte Regierung Israels werde „einer niederträchtigen und mörderischen Organisation nicht nachgeben“, so Ben-Gvir am Dienstag nach seinem umstrittenen Besuch. Das palästinensische Außenministerium im Ramallah nannte den Besuch eine „nie dagewesene Provokation“. Die radikalislamische Palästinenserorganisation Hamas, die den Gazastreifen beherrscht, hatte Ben-Gvirs Besuchspläne zuvor als „Auftakt zu einer Eskalation in der Region“ bezeichnet.

Der Chef der rechtsextremen Partei Jüdische Kraft hatte bereits als Parlamentsabgeordneter ohne Regierungsamt mehrmals den Muslimen und Juden heiligen Tempelberg besucht und einen Besuch auch als Minister angekündigt.

Felsendom in Jerusalem
AP/Maya Alleruzzo
Der Felsendom – der Ort, von dem islamischer Tradition zufolge Mohammed die Himmelfahrt angetreten hat

International unter Druck

Noch ist die ohnehin angespannte Lage in den Palästinensergebieten und in Ostjerusalem ruhig. Doch Ben-Gvirs Visite bringt die israelische Regierung nur wenige Tage nach Amtsantritt international unter Druck: Jordanien – es ist federführend in der muslimischen Verwaltung des Tempelbergs – bestellte den israelischen Botschafter ins Außenministerium ein.

Beim Verbündeten USA sorgte der Besuch für Irritationen. Die Vereinigten Staaten träten fest für den Erhalt des Status quo bezüglich der heiligen Stätten in Jerusalem ein, sagte die Sprecherin des Weißen Hauses, Karine Jean-Pierre, am Dienstag. „Jeglicher unilateraler Vorstoß, der den Status quo gefährdet, ist inakzeptabel“, sagte Jean-Pierre. Die USA erwarteten von dem israelischen Premierminister Netanjahu, dass er sich an seine Wahlversprechen halte, den Status quo beizubehalten, sagte der Sprecher des US-Außenministeriums, Ned Price, am Dienstag.

Netanjahu hatte zuletzt internationale Bedenken vor der Koalition mit Rechtsextremen zu zerstreuen versucht und betont, letztlich entscheide alles er. Netanjahu ist allerdings seinen Koalitionspartnern weitgehend ausgeliefert, da er keine Alternativen hat. Keine andere Partei ist bereit, noch mit ihm, der sich selbst parallel zu seinen Amtsgeschäften einem Korruptionsskandal stellen muss, zusammenzuarbeiten. Entsprechend viel Gewicht hatten die Rechtsradikalen Ben-Gvir und Besalel Smotritsch bereits in den Koalitionsverhandlungen.

Tim Cupal (ORF) zum Tempelberg-Besuch

ORF-Korrespondent Tim Cupal über den Tempelberg-Besuch des israelischen Ministers für nationale Sicherheit und den Start der neuen israelischen Regierung.

Netanjahus Ambitionen torpediert

Und Ben-Gvirs Tempelberg-Visite gefährdet gleich zu Anfang eines der großen außenpolitischen Ziele Netanjahus, mit dem er hofft, in die Geschichtsbücher einzugehen: weitere De-Facto-Friedensschlüsse nach dem Vorbild der „Abraham-Abkommen“ mit Bahrain und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) – und zumindest eine Annäherung mit dem mächtigen Saudi-Arabien.

Doch aus allen arabischen Ländern, insbesondere Saudi-Arabien, kam Kritik an Ben-Gvirs Aktion. Und Netanjahu muss gezwungenermaßen auch seine erste Auslandsreise zumindest verschieben: Diese sollte ihn – symbolträchtig – in wenigen Tagen in die VAE bringen, von denen er sich auch Vermittlungsdienste bei anderen arabischen Golfstaaten erhofft. Abu Dhabi sagte den Termin nach Ben-Gvirs Tempelberg-Besuch aber ab. Die Türkei verurteilte den Besuch als „Provokation“ und forderte Israel auf, verantwortungsvoll zu handeln. Die Türkei und Israel hatten sich nach einem jahrelangen Zerwürfnis zuletzt um Wiederannäherung bemüht.

Netanjahus Vorgänger, der derzeitige Oppositionschef Jair Lapid, erklärte mit Blick auf die erst kürzlich abgeschlossene, schwierige Regierungsbildung auf dem Kurznachrichtendienst Twitter: „Das passiert, wenn ein schwacher Premierminister gezwungen ist, der unverantwortlichsten Person des Nahen Ostens am explosivsten Ort des Nahen Ostens Verantwortung zu übertragen.“

Einer der radikalsten

Der 46-jährige Ben-Gvir ist eines der radikalsten und umstrittensten Mitglieder der Ende Dezember vereidigten neuen, rechtsgerichteten israelischen Regierung unter Ministerpräsident Netanjahu. Ben-Gvir wurde wiederholt vorgeworfen, Spannungen mit den Palästinensern absichtlich anzuheizen, und er wurde wegen Unterstützung einer jüdischen Terrororganisation rechtskräftig verurteilt.

Ben-Gvir tritt für eine israelische Annexion des besetzten Westjordanlands an, wo derzeit neben rund 2,9 Millionen Palästinensern auch 475.000 Israelis in völkerrechtlich illegalen Siedlungen leben. Zudem hatte Ben-Gvir sich für eine Umsiedlung eines Teils der arabischen Bevölkerung Israels in Nachbarstaaten ausgesprochen – und das mit deren „Illoyalität“ begründet.