Demonstranten stehen in der brasilianischen Hauptstadt Brasilia Polizisten gegenüber
Reuters/Adriano Machado
Angriff in Brasilia

Vorgehen der Polizei wirft Fragen auf

Erstürmte Regierungsgebäude, eingeschlagene Fenster, verwüstete Räume – mehrere Stunden haben am Sonntag Tausende radikale Anhängerinnen und Anhänger von Ex-Präsident Jair Bolsonaro mehr oder minder ungestört randalieren können. Auch wenn noch viele Fragen offen sind, scheint sich vor diesem Hintergrund derzeit vor allem eine besonders aufzudrängen: Warum blieben Sicherheitskräfte der Polizei und Armee so lange untätig?

In seiner Amtszeit tätigte Bolsonaro, selbst einst Hauptmann in der Reserve, große finanzielle Zuwendungen an das brasilianische Militär, er verschaffte Tausenden Militärs Regierungsposten, Hunderte davon gut dotiert, einigen davon als Minister, Generäle zählten zu seinem engsten Machtzirkel. Auch verteidigte Bolsonaro die brasilianische Militärdiktatur (1964–1985).

Zudem erhöhte Bolsonaro die Privilegien für Militärs und weitete zugleich die Rechte der Polizei stark aus – seine Einflussnahme auf die Sicherheitskräfte war nicht nur einmal Zentrum politischer Debatten – und scheint es nun wieder zu sein.

Ein Demonstrant steht in der brasilianischen Hauptstadt Brasilia einer Phalanx von Polizisten gegenüber
AP/Eraldo Peres
Stundenlang randalierten radikale Anhänger und Anhängerinnen von Bolsonaro im Regierungsviertel

„Unterstützung von Teilen der Sicherheitskräfte“

Denn den Demonstrierenden war es möglich, nicht nur den Kongress, sondern auch den Obersten Gerichtshof und den Regierungssitz einzunehmen. Gerade zu Beginn der Krawalle gab die Polizei keine gute Figur ab – als der Mob die Gebäude des Regierungsviertels stürmte, stellten sich nur wenige Beamte entgegen. Und das, obwohl sich die Überraschung angesichts der Entwicklungen der vergangenen Tage in Grenzen halten hätte können.

Karte zeigt Regierungsviertel in Brasilia
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Brasilien-Experte Niklas Franzen schrieb dazu etwa in der „taz“: „Seit Wochen riefen Bol­so­na­ris­tin­nen und Bolsonaristen zum Sturm auf Brasilia auf, verkündeten on- und offline, Widerstand gegen die neue Regierung zu leisten. Sie waren gut vorbereitet, hatten Codewörter und – wie es aussieht – auch die Unterstützung von Teilen der Sicherheitskräfte.“

Fahrlässig oder mitschuldig?

Ähnlich äußerte sich der Politologe Rafael Ioris, in „The Conversation“ meint er, die Rolle des Militärs sei bei dem Angriff nicht zu unterschätzen: Führende Militärs würden seit Langem Bolsonaros rechtsextreme Agenda unterstützen und hätten sogar mehrere Demonstrationen in verschiedenen Teilen des Landes unterstützt, die sich im Vorfeld der Ausschreitungen für einen Putsch ausgesprochen hatten.

Die Frage, die er sich stelle, sei: „Waren sie fahrlässig oder waren sie mitschuldig?“ – um gleich darauf eine Antwort zu geben: „Ich denke, man kann mit Fug und Recht behaupten, dass Teile des brasilianischen Militärs das Geschehen unterstützt haben.“ Dennoch müsse man sich vor Augen halten, dass es zumindest nicht zu einem Militärputsch gekommen sei.

Berittene Polizei während der Ausschreitungen in der brasilianischen Hauptstadt Brasilia
APA/AFP/Ton Molina
Die Sicherheitskräfte reagierten mit großer zeitlicher Verzögerung auf die Ausschreitungen

Bolsonaro weist Vorwürfe zurück

Bolsonaro ging in einer ersten Reaktion auf Distanz zu den Vorfällen: „Friedliche Demonstrationen sind Teil der Demokratie. Plünderungen und Überfälle auf öffentliche Gebäude, wie sie heute stattgefunden haben, fallen jedoch nicht darunter“, schrieb der Ex-Staatschef auf dem Kurznachrichtendienst Twitter.

„Während meiner gesamten Amtszeit habe ich mich stets an die Verfassung gehalten und die Gesetze, die Demokratie, die Transparenz und unsere heilige Freiheit geachtet und verteidigt.“ Dennoch hatte Bolsonaro nach seiner Wahlniederlage seine Anhängerinnen und Anhänger zum Kampf gegen den neuen Präsidenten Luiz Inacio Lula da Silva aufgerufen.

Selfies mit Polizisten

Schon Tage vor den Ausschreitungen kampierten zahlreiche Anhängerinnen und Anhänger Bolsonaros vor dem Hauptquartier der Streitkräfte. Als am Samstag und Sonntag rund 4.000 weitere Unterstützerinnen und Unterstützers des Ex-Präsidenten in Bussen in der Hauptstadt eintrafen und zum Regierungsviertel zogen, wurden sie sogar von Beamten eskortiert. Polizisten machten Selfies mit den Demonstranten und drehten Handyvideos, wie im Fernsehen zu sehen war.

Erst nach Stunden gelang es den Sicherheitskräften, die Lage wieder unter Kontrolle zu bringen. Die Militärpolizei rückte mit Reiterstaffeln und gepanzerten Fahrzeugen vor, Spezialkräfte setzten Tränengas ein, Hubschrauber kreisten über dem Regierungsviertel.

Festnahmen nach Unruhen in Brasilien

Nach dem Sturm auf Regierungsgebäude in Brasilia konnte die Menge erst nach Stunden zurückgedrängt werden. Es gab zahlreich Festnahmen.

Dominoeffekt: Personalrochaden im Bolsonaro-Umfeld

Rund 230 Verdächtige wurden noch am Sonntag festgenommen, wie Justizminister Flavio Dino mitteilte. Der ehemalige Justizminister unter Bolsonaro und dessen enger Vertrauter, Anderson Torres, wurde noch in derselben Nacht als Sicherheitschef von Brasilia entlassen.

Und das von niemand Geringerem als dem Gouverneur des Bundesdistrikts Brasilia, Ibaneis Rocha. Dieser ist zwar ebenfalls mit Bolsonaro verbündet, entschuldigte sich aber in einem Video bei dessen Amtsnachfolger Lula. Er bezeichnete die Angreifer als „Vandalen“ und „Terroristen“. Doch auch Rocha selbst wurde bereits vom obersten Richter Alexandre de Moraes für 90 Tage vom Amt suspendiert. Trotz deutlicher Hinweise auf gewalttätige Aktionen habe der Gouverneur nichts unternommen, um die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten, sagte Höchstrichter de Moraes am Montag.

Die Generalstaatsanwaltschaft hatte den Obersten Gerichtshof zuvor ersucht, Haftbefehle gegen Torres und alle anderen Amtsträger zu erlassen, die durch ihre „Handlungen und Unterlassungen“ Mitverantwortung für die Aufstände trügen. Der amtierende Präsident Lula stellte als Reaktion auf die Geschehnisse die öffentliche Sicherheit in der Hauptstadt per Dekret unter Bundesaufsicht.