der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan
Reuters
Zuckerbrot und Peitsche

Erdogans Taktik für den Machterhalt

20 Jahre ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan an der Macht. Ein letztes Mal möchte der 68-Jährige heuer als Präsidentschaftskandidat antreten. Trotz des von ihm aufgebauten autokratischen Systems ist sein Sieg und der seiner islamisch-konservativen Partei AKP aber keineswegs sicher. Schon Monate vor der Wahl setzt Erdogan daher auf „Zuckerln“ für die potenzielle Wählerschaft. Kritikern und aussichtsreichen Gegnern wird mit aller Schärfe begegnet.

Die türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen finden spätestens Mitte Juni, möglicherweise aber auch schon früher statt. Nicht zuletzt die wirtschaftlichen Schwierigkeiten mit einer hohen, im Dezember aber auf rund 64 Prozent gesunkenen Inflation und einer abgewerteten türkischen Währung Lira, haben die Zustimmung zum regierenden Bündnis Volksallianz aus AKP und der ultranationalistischen MHP sinken lassen.

Erdogan antwortet mit Blick auf die Wähler und Wählerinnen mit finanziellen Geschenken: 30 Prozent Lohnsteigerung im öffentlichen Dienst, mehrfache Erhöhung des Mindestlohns und die Aufhebung des Mindestalters bei der Pension. Der Mittelschicht soll mit vergünstigten Krediten der Wohnungskauf erleichtert werden. Zugleich setzt Erdogan die Notenbank unter Druck, die Zinsen nicht in dem Ausmaß zu erhöhen, wie es eigentlich für die Bekämpfung der enormen Inflation aus ökonomischer Sicht notwendig wäre.

Markt in Ankara
APA/AFP/Adem Altan
Die Türkei hat mit einer hohen Inflation von über 60 Prozent zu kämpfen

„Rückzug von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit“

Weniger Milde lässt Erdogan bei potenziellen Gegnern sowie Kritikern und Kritikerinnen walten. Die in den USA ansässige Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) kritisiert ausgeweitete Zensurbefugnisse, fingierte Strafverfahren und Gefängnisstrafen. Tausende politische Regierungsgegner sind in Haft. „Die Erdogan-Regierung hat ihren Rückzug von den Menschenrechten und der Rechtsstaatlichkeit beschleunigt, indem sie neue Onlinezensur- und Desinformationsgesetze eingeführt hat, um die Medien mundtot zu machen und friedliche Meinungsverschiedenheiten zu unterdrücken“, sagte Hugh Williamson, HRW-Direktor für Europa und Zentralasien.

Erst im Herbst verschärfte die Regierung das Mediengesetz, Falschinformationen können mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden, was darunter fällt, wird aber nicht näher definiert. Die türkische Journalistengewerkschaft sprach von einer Zerstörung vom „letzten Rest Meinungsfreiheit“. Insbesondere im Internet werden Einschränkungen befürchtet. Die Zeitungen und Fernsehsender sind bereits großteils regierungstreu.

Damoklesschwert Politikverbot

Den scharfen Gegenwind bekommt auch die Opposition zu spüren. Bisher ist noch unklar, welche oppositionellen Kandidaten gegen Erdogan in den Ring steigen werden. Aussichtsreiche Kandidaten werden schon jetzt drangsaliert. Für das Sechserbündnis mit der größten Oppositionspartei CHP wurde immer wieder der amtierende Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu ins Spiel gebracht. Dieser hatte bereits bei der Kommunalwahl 2019 – auch mit Hilfe kurdischer Stimmen – einen AKP-Kandidaten ausgestochen und der Regierungspartei eine empfindliche Niederlage verpasst.

Ekrem Imamoglu, Bürgermeister von Istanbul
IMAGO/ZUMA Wire
Dem Istanbuler Oberbürgermeister Imamoglu und möglichen Erdogan-Rivalen könnte ein Politikverbot drohen

Über Imamoglu schwebt aber ein ständiges Damoklesschwert, abgesetzt zu werden und Politikverbot auferlegt zu bekommen. Ende vergangenen Jahres verhängte ein Gericht eine zweijährige Gefängnisstrafe und untersagte ihm die Ausübung eines gewählten Amtes wegen des Vorwurfs der Beleidigung von Amtsträgern bei der Istanbuler Kommunalwahl 2019. Der nationale und internationale Protest war groß, das Berufungsurteil ist noch ausständig. Vor wenigen Tagen wurde zudem bekannt, dass Imamoglu ein Prozess wegen angeblichen Betrugs bevorstehen könnte. Als Alternative könnte CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu als Kandidat dieses Oppositionsbündnisses antreten.

HDP von Parteienfinanzierung ausgeschlossen

Die prokurdische HDP sieht sich als gesamte Partei in die Ecke gedrängt. Die zweitgrößte Oppositionspartei ist mit anderen vier Parteien in einem eigenen Wahlbündnis. Die HDP könnte Königsmacher für die nächste Regierung sein. Schon 2019 verzichtete sie etwa in Istanbul auf einen eigenen Kandidaten und riet, Imamoglu die Stimme zu geben. Für die bevorstehende Wahl will die Partei aber einen eigenen Kandidaten aufstellen, sollte das Antreten noch möglich sein.

Denn die Staatsanwaltschaft forderte erst vor wenigen Tagen vor dem türkischen Verfassungsgericht ein Verbot der Partei wegen „Terrorismus“. Der linksgerichteten Partei wird eine enge Verbindung zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vorgeworfen. Die HDP weist das zurück. Mindestens zwei Drittel der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts müssten für das Verbot stimmen. Die HDP erwartet eine Entscheidung in den kommenden Monaten vor den Wahlen.

Bereits entschieden hat das Verfassungsgericht, dass die HDP vorerst von der staatlichen Parteienfinanzierung ausgeschlossen ist. Diese Gerichtsentscheidung zeige, dass Erdogans Regierung Gerichte dazu missbrauche, die politische Opposition „zu benachteiligen, aus dem Weg zu räumen und zu bestrafen“. Dutzende HDP-Politiker sind seit Jahren in Haft.

Politisch beeinflusste Justiz

Die türkische Justiz gilt als parteiisch. Auch die EU-Kommission bemängelte, dass die Justiz in vielen Bereichen unter Kontrolle der Regierung steht. Erdogan dementiert das. Beispiele für eine politisch agierende Justiz gibt es zahlreiche – auch abseits der Parteien. So wurde etwa der Menschenrechtsaktivist Osman Kavala wegen des Vorwurfs des versuchten Umsturzes der türkischen Regierung im Rahmen der Gezi-Proteste 2013 und wegen Spionagevorwürfen zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Urteil wurde erst kürzlich bestätigt. Internationale Proteste gegen Kavalas Inhaftierung blieben in der Türkei ungehört.

Osman Kavala
APA/AFP/Anadolu Culture Center
Gegen die Inhaftierung des Menschenrechtsaktivisten Kavala gab es heftige Proteste

Vergangene Woche wurde die Präsidentin der türkischen Ärztekammer, Sebnem Korur, zu zwei Jahren und acht Monaten Haft verurteilt. Sie war seit mehreren Monaten in U-Haft, nachdem ihr „terroristische Propaganda“ vorgeworfen wurde. Sie hatte die Untersuchung eines mutmaßlichen Einsatzes chemischer Waffen durch die türkische Armee gegen kurdische Kämpfer gefordert. Sie wurde jedoch nach dem Urteil freigelassen und unter gerichtliche Aufsicht gestellt, da in der Türkei Haftstrafen unter vier Jahren selten vollstreckt werden. Die Höchststrafe in ihrem Fall wären siebeneinhalb Jahre Haft gewesen. Das Urteil gilt daher als Rückschlag für die Staatsanwaltschaft.

Luftschläge als Vergeltung

Außenpolitisch will Erdogan Stärke demonstrieren. Beim Getreidedeal zwischen Russland und der Ukraine etwa positionierte er die Türkei als Vermittler. Den schwedischen NATO-Beitritt blockiert er weiterhin. Die Blockade wird mit einer vermeintlichen Unterstützung Schwedens der verbotenen PKK argumentiert.

Kurdische Rebellen machte die türkische Regierung auch für einen Bombenanschlag mit sechs Toten in Istanbul im November verantwortlich. Folgende Luftangriffe gegen von Kurden besiedelte Gebiete im Nordirak und in Syrien begründete Erdogan mit einem Vergeltungsschlag. Es gibt aber Zweifel an der offiziellen Darstellung, wer tatsächlich hinter dem Anschlag steckt. Von kurdischer Seite wurde jede Verantwortung dafür zurückgewiesen. Die Luftangriffe sorgten für internationale Kritik. NGOs berichteten, dass bei den Angriffen auch zivile Ziele getroffen worden seien, zudem hätten Angriffe auf Öl- und Gasanlagen zu einer Treibstoffknappheit geführt.

Ölfeld in Syrien, aufsteigender Rauch im Hintergrund
APA/AFP/Gihad Darwish
Die Türkei griff Öl- und Gasanlagen im Nordosten Syriens an

Annäherung an Syriens Machthaber

In Syrien dürfte Erdogan inzwischen eine Kehrtwende vollziehen. Bisher stand die Türkei auf der Seite der syrischen Opposition, die vor allem den Nordwesten Syriens kontrolliert. Diplomatische Beziehungen zu Syriens Machthaber Baschar al-Assad wurden abgebrochen. Doch inzwischen gibt es eine Annäherung zwischen Ankara und Damaskus. Das würde – auch international – die Karten im Syrien-Konflikt neu mischen.

Der Hintergrund dieses möglichen Kurswechsels könnte innenpolitischer Natur und der Wechsel mit Blick auf die Wahlen erfolgt sein. Die Türkei nahm rund 3,7 Mio. Syrer und Syrerinnen auf. Die Stimmung im Land gegenüber den Flüchtlingen verschlechterte sich zusehends, da diese auch die türkische Wirtschaft vor zusätzliche Herausforderungen stellen. Erdogan sucht nach Möglichkeiten, dass syrische Flüchtlinge die Türkei verlassen.

Zudem will er die von den USA unterstützte syrische Kurdenmiliz YPG von der syrisch-türkischen Grenze zurückdrängen, analysierte Nahost-Expertin Gudrun Harrer für den „Standard“. Syrische Flüchtlinge könnten in eine Pufferzone hinter der Grenze gebracht werden, so der Plan Ankaras. Dafür sei aber auch der Konsens mit Russland notwendig, so die Analyse. Offen bleibt auch, ob Assad bei diesem Schachzug dabei ist.