General Valery Gerassimow
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Moskau

Rätseln über Motive für Kommandowechsel

Zum dritten Mal binnen weniger Monate hat der Kreml den Befehlshaber für den Ukraine-Krieg gewechselt. Nun soll es Generalstabschef Waleri Gerassimow richten – und das, obwohl Russlands oberster Militär seit Beginn des Kriegs eher in der Kritik steht. Internationale Beobachter rätseln über die Motive für den Schachzug. Vermutet werden politische und keine militärischen Beweggründe, etwa die immer offener ausgetragene Rivalität zwischen der Armee und der Söldnertruppe Wagner.

Das russische Verteidigungsministerium begründete den Wechsel mit einer „Erweiterung der Aufgaben“ und der „Notwendigkeit“ einer „engeren Interaktion“ zwischen den Truppen und sprach von einer „Aufstockung der Führungsebene der Spezialoperation“. Der Kreml hält auch nach dem Umbau an den Zielen der Invasion fest. Die vier annektierten Gebiete Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson sollten vollständig eingenommen werden, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow.

Generalstabschef Gerassimow wurde eigentlich vor allem zu Beginn des Krieges stark kritisiert, weil die – wohl überzogenen – Erwartungen einer schnellen Unterwerfung der Ukraine nicht erfüllt werden konnten und sich strategische Fehler häuften. Gerassimow gilt als Vertrauter von Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu, dennoch scheint die neue Aufgabe alles andere als eine Beförderung zu sein.

Schwierige Aufgaben

Analysten sehen ihn vor praktisch unlösbaren Aufgaben: Das offensichtliche Nachschubproblem der russischen Armee mit Munition ist kurzfristig kaum zu lösen, ebenso die Rekrutierung von gut ausgebildeten Soldaten. Gleichzeitig werden militärische Erfolge erwartet, allen voran von Präsident Wladimir Putin. Beim Jahrestag des Einmarschs Ende Februar wollte Putin sicher Erfolge vorweisen können, schreibt der australische Ex-General und Militäranalyst Mick Ryan.

Erfolgsmeldungen zum Jahrestag erwartet

Spekuliert wird über eine Frühjahrsoffensive, diese könnte am ehesten im Nordosten der Ukraine, also in der Region Charkiw, stattfinden, schreibt der US-Thinktank Institute for the Study of War. Dort hatte die russische Armee im Herbst überraschende Gebietsverluste hinnehmen müssen. Umgekehrt muss Russland auch mit einer neuen Gegenoffensive der ukrainischen Truppen, möglicherweise mit neuen und stärkeren westlichen Waffensystemen, rechnen.

Einige Experten gehen sogar so weit zu sagen, dass mit Gerassimow der ultimative Sündenbock eingesetzt werde, sollte der gesamte Krieg für Russland verloren gehen. Eine Beförderung für Gerrasimow sei der Schritt jedenfalls nicht, schreibt der Russland-Analyst Mark Galeotti.

Signal an Hardliner

Einig sind sich die Beobachter, dass Putins Entscheidung eine politische war, die laut Institute for the Study of War signalisieren soll, „dass der Kreml an den traditionellen Machtstrukturen des russischen Verteidigungsministeriums festhält und Putin bereit ist, einen langen Krieg in der Ukraine zu führen“. Die Botschaft richtet sich einerseits an den Westen, andererseits aber an die Kritiker im eigenen Land, insbesondere an die Hardliner wie die Militärblogger und die Gruppe der „Silowiki“. So wird der einflussreiche Zirkel aus Militär und Geheimdienstleuten bezeichnet, die für einen noch härteren Kurs plädieren.

Vorgänger für harten Kurs verantwortlich

Verständlich wird die Entscheidung für Gerassimow beim Blick auf seinen Vorgänger Sergej Surowikin, der zu einem von drei Stellvertretern des Oberbefehlshabers degradiert wurde. Surowikin war erst im Oktober zum Kommandeur der Truppen in der Ukraine ernannt worden, um die Situation der russischen Armee angesichts von Rückschlägen durch ukrainische Offensiven zu verbessern.

General Sergei Surowikin
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General Surowkin steht nun wieder in der zweiten Reihe – zumindest vorerst

Die Bombardements der ukrainischen Infrastruktur, die die Stromversorgung des Landes an die Kippe brachten, galt als Handschrift des Luftwaffengenerals, der seinen Ruf als „General Armageddon“ bei den Angriffen auf zivile Ziele in Syrien erworben hatte. Eigentlich hatte sich die Lage der russischen Truppen in der Ukraine unter seiner Führung etwas stabilisiert.

Liebling der Hardliner – und von Wagner-Chef

Er musste zwar den Rückzug aus Cherson im Süden befehligen, allgemein wurde das aber als Folge der Fehler seiner Vorgänger gesehen. Er gilt als einer der härtesten und skrupellosesten Generäle Russlands, was ihn zum dezidierten Liebling der russischen Militärblogger macht, die vom Kreml ein weit härteres Vorgehen in der Ukraine fordern.

Und er wurde auch immer wieder vom Chef der russischen Söldnertruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, gelobt, der in den vergangenen Wochen zunehmend seine eigene Agenda in den Fokus rückte und gleichzeitig die Kriegsführung des russischen Verteidigungsministeriums seit Ende 2022 zunehmend kritisierte.

Offene Widersprüche

Das Institute for the Study of War vermutet, dass Prigoschin, mittlerweile eine der wichtigsten Figuren in der Silowiki-Fraktion, die Erfolgsmeldungen – seien sie bestätigt oder auch nur erfunden – gezielt einsetze, um seine Gruppe als die einzige russische Kraft in der Ukraine zu propagieren, die in der Lage ist, greifbare Erfolge zu erzielen. In den russischen Staatsmedien wurden die ersten militärischen Erfolge seit Langem, das Vorrücken auf die seit Monaten beschossenen Städte Bachmut und Soledar, gefeiert.

Jewgeni Wiktorowitsch Prigoschin, Chef der Söldner-Truppe „Wagner“
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Prigoschin gilt eigentlich als Vertrauter Putins, nun scheint das Verhältnis getrübt

Prigoschin verkündete am Dienstagabend die vollständige Eroberung der umkämpften Kleinstadt Soledar und betonte, dass nur seine Truppen für den Erfolg verantwortlich seien.

Das Verteidigungsministerium und der Kreml widersprachen wenige Stunden später. Der Ort sei nicht vollständig eingenommen, und reguläre russische Truppen seien an den Kämpfen ebenfalls beteiligt: Luftlandetruppen hätten den nördlichen und südlichen Teil von Soledar blockiert, und die russische Luftwaffe bombardiere ukrainische Stellungen.

Auch abgesetzter Kommandeur befördert

Wie Prigoschin auf die nun auch öffentlich geäußerten Widersprüche und die Ernennung von Gerassimow reagiert, bleibt abzuwarten. Experten erwarten, dass die sichtbaren Risse innerhalb des russischen Militärapparats eher zunehmen. Schon eine Personalentscheidung von Dienstag wurde in Russland scharf kritisiert: General Alexander Lapin wurde zum Generalstabschef der Heerestruppen ernannt. Die Beförderung überraschte insofern, als er bis zum Oktober die Heeresgruppe „Zentrum“ der russischen Truppen in der Ukraine kommandierte. Nach den Gebietsgewinnen der Ukraine im Raum Charkiw stand er im Zentrum der Kritik und wurde umgehend abgelöst.

Zeichen der Schwäche?

Für internationale Experten verfestigt sich eher das Bild, dass die ohnehin schwerfällige russische Kommandostruktur noch einmal verwirrender wird – und die Personalrochaden sähen schon ein wenig nach Verzweiflungsakten aus. So kommentierte der Politologe Abbas Galljamow: "Gestern Lapin, heute Gerassimow und Surowikin. All diese Umbesetzungen ein und derselben Leute von einem Sessel in den nächsten, die auf der Höhe der Kampfhandlungen erfolgen, zeugen von allem Möglichen – aber nicht davon, dass „alles nach Plan“ abrennt.

Das ukrainische Verteidigungsministerium reagierte auf Gerassimows neue Rolle mit Spott: „Jeder russische General muss mindestens einmal die Gelegenheit haben, in der Ukraine zu scheitern.
Einige haben vielleicht das Glück, zweimal zu scheitern“, hieß es auf dem offiziellen Twitter-Account.

Das Institute for the Study of War schrieb, das russische Verteidigungsministerium „scheint zuvor in Ungnade gefallene und unpopuläre Generaloffiziere zur Besetzung anderer, nicht an der Front befindlicher Kommandopositionen einzusetzen, was darauf hindeutet, dass ein systematischer Mangel an Generaloffizieren besteht, die für diese Positionen besser geeignet sind“.