Viele Polizisten vor einem besetzten Haus in Lützerath
APA/AFP/Ina Fassbender
Räumung von Lützerath

Aktivisten in Tunnel verschanzt

Gegen den Widerstand der Aktivisten und Aktivistinnen ist ein Großteil des besetzten Dorfes Lützerath im rheinischen Braunkohlerevier in Deutschland geräumt worden. Das teilte die Polizei in der Nacht auf Freitag mit. Schwierigkeiten bereitet der Polizei nun ein unterirdisches Tunnelsystem. Nach Angaben der Aktivisten befinden sich derzeit zwei Menschen in einem Tunnel unter Lützerath.

Die beiden seien entschlossen, sich anzuketten, sobald versucht werde, sie herauszuholen, sagte eine Sprecherin der Initiative „Lützerath lebt“ Freitagfrüh. Das Technische Hilfswerk hatte in der Nacht versucht, die Aktivisten herauszuholen, den Einsatz aber später beendet. Nach Angaben von „Lützerath lebt“ sind die Personen in gut vier Meter Tiefe. Es gebe ein „Belüftungssystem“.

Der Tunnel unter Lützerath sei eine „spezielle Struktur, die die Räumung in die Länge ziehen soll“, twitterten die Aktivisten: „Das zerstörerische System zu untergraben ist Handarbeit.“ Auch an der Oberfläche harren trotz starken Regens und Windes noch Aktivisten aus. In der Nacht auf Freitag ging die Räumung in der Dunkelheit zunächst noch weiter. „Objekte, die angegangen worden sind, arbeiten wir noch fertig ab“, sagte ein Polizeisprecher. Auch Aktivisten, die sich einbetoniert oder festgekettet hätten, würden trotz der Dunkelheit befreit.

Polizei braucht Unterstützung von Spezialkräften

Für den Aachener Polizeipräsidenten Dirk Weinspach ist die Situation gefährlich: „Wir wissen nicht, wie stabil diese unterirdischen Bodenstrukturen sind und wie die Luftzufuhr dort ist.“ Es gebe zwei Tunnel, bestätigte die Polizei, in einem seien Menschen.

Die Aktivisten hatten die Einsatzkräfte auf die unterirdischen Gräben aufmerksam gemacht und sie davor gewarnt, mit schwerem Gerät aufzufahren. Laut Polizei müssten sich nun Spezialkräfte des Energiekonzerns RWE und des THW darum kümmern, „wie die Rettung in geeigneter Weise vorgenommen werden kann“. Weinspach war am Freitag ein Stück in den Tunnelschacht hineingestiegen.

Bagger reißt ein Haus in Lützerath ab
IMAGO/Jochen Tack
Der Großteil des Geländes wurde bereits geräumt

Polizeipräsident sieht keine akute Gefahr

„Ich finde es einfach schlimm, welche Gefahren diese Menschen auf sich nehmen, für sich“, so Weinspach. Die Konstruktion sei nicht sicher. Er gehe allerdings davon aus, dass derzeit keine akute Gefahr für die beiden Personen bestehe. Ob sie festgekettet seien, wisse er nicht. Kontaktbeamte versuchten, Kontakt aufzunehmen und mit den Betreffenden zu sprechen, sagte er. Deren Kommunikation mit Telefon funktioniere nicht mehr, man versuche es jetzt mit Funkgeräten.

Am Donnerstag hatte ein auf YouTube veröffentlichtes Video zweier vermummter Männer für Aufsehen gesorgt. „Pinky“ und „Brain“ geben darin an, sich in dem Tunnel unter Lützerath aufzuhalten. „Wir haben Hinweise, dass das Video authentisch ist“, bestätigte die Polizei.

Nach Angaben von Aktivisten aus der Nacht waren noch mehrere Objekte und Widerstandskonstruktionen besetzt. „Es ist noch lange nicht vorbei“, hieß es vonseiten der Besetzer. Am Freitag wurde das gelbe Transparent mit der Aufschrift „1,5 C heißt: Lützerath bleibt!“ von einer Mauer eines ehemaligen Bauernhofs entfernt. Das symbolträchtige Transparent war seit Langem im Hintergrund vieler Protestaktionen zu sehen.

Aus bis zu zehn Meter Höhe geholt

Am Donnerstag wurden zahlreiche Holzhütten und Barrikaden der Aktivisten von Baggern dem Erdboden gleichgemacht. Die Besetzer ließen sich bei der Räumung meist ohne große Gegenwehr wegtragen. Aus den in bis zu zehn Meter Höhe errichteten Baumhäusern wurden die Besetzer von Höhenrettern nach unten gebracht.

Anschließend schnitten Polizisten die Halteseile durch, sodass Baumhäuser krachend in die Tiefe stürzten und dort in viele Einzelteile zerbrachen. Auch zwei symbolträchtige Häuser der einstigen Bewohner von Lützerath wurden geräumt.

Mehr als 300 Menschen verließen bis Donnerstagabend Lützerath. Gegen sechs Menschen wurden Strafanzeigen wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und Sachbeschädigung gestellt. Seit Beginn der Räumungsaktion am Mittwoch gab es heftige Proteste. Bei den Besetzern wurde nach Polizeiangaben eine Person leicht verletzt, auf Seite der Polizei wurden elf Einsatzkräfte ohne Fremdeinwirkung verletzt.

Vermummte randalierten in Berlin

Aus Protest gegen die Räumung Lützeraths zogen in Berlin in der Nacht laut Polizeiangaben bis zu 200 Menschen randalierend durch die Straßen. Wie die Polizei am Freitag mitteilte, alarmierte in der Nacht ein Zeuge die Beamten, weil eine Gruppe Vermummter im Bezirk Mitte Mistkübel anzündete. Weitere Zeugen meldeten kurze Zeit später bis zu 200 Menschen, die durch die Straßen zogen.

Dabei wurden aus der Menge heraus die Auslagen von insgesamt 26 Geschäften mit Kleinpflastersteinen sowie mit farbgefüllten Christbaumkugeln beworfen und beschädigt. Zudem wurden Parolen wie „Lützi bleibt“ und „Lützi lebt“ auf Fenster und Fassaden geschmiert.

Kohle statt Gas

Auch vor der Zentrale des Energiekonzerns RWE gab es Freitagfrüh Proteste. Die Aktivisten und Aktivistinnen forderten einen Stopp der Räumung Lützeraths. Drei von ihnen ketteten sich an ein Rolltor und blockierten dadurch die Einfahrt. Die Polizei rückte mit mehreren Streifenwagen an, nachdem der RWE-Sicherheitsdienst den Vorfall gemeldet hatte.

RWE will die Braunkohle abbauen, die unter dem von den Bewohnern und Bewohnerinnen längst verlassenen Dorf liegt. Die Kohle werde benötigt, um in der Energiekrise Gas für die Stromerzeugung in Deutschland zu sparen, argumentiert der Konzern. Die Aktivisten bestreiten das. Im Gegenzug dafür, dass die Politik den Weg für den Abbau der Braunkohle unter Lützerath frei machte, wurde der Kohleausstieg in Nordrhein-Westfalen (NRW) um acht Jahre auf 2030 vorgezogen.

Thunberg kommt zu Kundgebung

Für Samstag ist in Lützeraths Nachbarort Keyenberg eine große Kundgebung angekündigt. Die Polizei rechnet mit 6.000 bis 7.000 Teilnehmern. Zu der Veranstaltung will auch die bekannte Klimaaktivistin Greta Thunberg aus Schweden kommen. Sie wolle die Aktivisten dabei unterstützen, Lützerath zu verteidigen, hatte die 20-Jährige auf Twitter geschrieben. „Kommt ab 12.00 Uhr dazu, um mit uns Leben zu schützen und Menschen vor Profiten Vorrang zu geben“, appellierte sie.

Der zuständige Landesinnenminister Herbert Reul (CDU) sagte der „Bild“-Zeitung, in Nordrhein-Westfalen dürfe jeder demonstrieren, „auch die aus der Ferne anreisende Frau Thunberg. Ich hoffe, sie sorgt dafür, dass ihre Mitstreiter friedlich bleiben und sich an die Regeln halten.“

Protestbrief von grüner Basis

Lützerath wird zunehmend zur Belastung für die Grünen. Bis Freitagvormittag hatten mehr als 2.000 Parteimitglieder einen offenen Brief gegen die Räumung des Dorfes unterzeichnet. Darin werden NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (beide Grüne) aufgefordert, die Räumung sofort zu stoppen. „Grüne Grundwerte nicht verraten: Lützerath muss bleiben“ ist der Brief überschrieben. Als Mitglieder der Grünen könne man die Räumung des Dorfes Lützerath weder verstehen noch hinnehmen.

Der „ausgehandelte Deal mit dem Energiekonzern RWE droht mit den Grundsätzen unserer Partei zu brechen“, heißt es weiter. „Und nicht nur das, wir brechen damit auch mit dem Pariser Klimaabkommen, dem Ampel-Koalitionsvertrag und dem letzten Vertrauen der Klimagerechtigkeitsbewegung.“ Die Kohle unter Lützerath abzubauen bedeute, dass weitere 280 Millionen Tonnen Kohle verbrannt würden. Deutschlands CO2-Budget lasse aber nur noch 47 Millionen Tonnen zu. Damit sei klar, dass Deutschland die 1,5-Grad-Grenze überschreiten werde.

„Lützerath das falsche Symbol“

Der grüne deutsche Klimaschutzminister Robert Habeck hat wenig Verständnis für die heftigen Proteste gegen den Abriss: „Es gibt viele gute Anlässe, für mehr Klimaschutz zu demonstrieren, meinetwegen auch gegen die Grünen. Aber Lützerath ist schlicht das falsche Symbol“, sagte Habeck dem „Spiegel“. Das Dorf sei eben nicht das Symbol für ein Weiter-so beim Braunkohletagebau Garzweiler im Rheinland, sondern „es ist der Schlussstrich“.

Habeck verteidigte einen entsprechenden Vertrag zwischen dem Bund, dem Land Nordrhein-Westfalen und dem Energiekonzern RWE. Das bedeute: „Wir retten fünf Ortschaften und Höfe mit rund 450 Bewohnern. Der Hambacher Forst ist gesichert worden. Die genehmigte Abbaumenge für Kohle im Tagebau wurde durch die Vereinbarung halbiert.“

NRW-Justizminister Benjamin Limbach sagte, er könne den Widerstand gut verstehen, da der Weg in die Kohle ein „falscher Weg“ gewesen sei. Dennoch sei die Rechtslage zu respektieren, dass RWE das Recht habe, diese Ortschaft in Anspruch zu nehmen.