Theater der Jugend / Theater im Zentrum / 
Ein Kind – von Thomas Bernhard
für die Bühne eingerichtet von Gerald Maria Bauer
Rita Newman/Theater der Jugend
„Ein Kind“

Funktioniert Bernhard für Jugendliche?

Wenn Thomas Bernhard gerade im Feld der Boomer der österreichische Paradeklassiker ist, dann bleibt die Frage, ob sein Werk für jüngere Generationen eine ähnliche Aura entwickeln kann wie für jene, die Mitte der 1980er und 1990er Jahre ein Stück ihres Buchgeschmacks an Bernhard entwickelt haben. Das Theater der Jugend in Wien versucht es mit der Bühnenversion der Autobiografie „Ein Kind“. Für Jugendliche ab 13 Jahren.

Die literarische Gestaltung der Kindheit ist nicht zuletzt eine der Perspektive. Niemand wusste und konnte das vielleicht besser als Marcel Proust, als er die Kindheitserinnerungen seines Helden Marcel aus einer Welt der Chimären und immer deutlich zu groß geratenen Dinge herausschälte. Proust, ein verzärteltes und im Zentrum der Familie stehendes Kind, durfte seine Kindheit noch als die eines idealen Paradieses in Erinnerung halten, das zwar auch von Geistern und der Außenwelt bedroht wurde – dem aber nie das Epizentrum verloren gegangen war. Bei Thomas Bernhard liegt die Kindheit wie ein großes Unverständnis da.

Das ungeliebte, uneheliche Kind, das sich hart seine Fixsterne des Aufwachsens, vor allem den schreibenden Großvater Johannes Freumbichler, erkämpfen musste – es hat bei Bernhard relativ spät in der Serie seiner autobiografischen Texte, nicht zuletzt in der Prosaarbeit „Ein Kind“ (1982), seinen Ausdruck gefunden. Als sich Bernhard in das Feld der Autobiografie vorwagte, war er ein hinreichend etablierter Dichter, der aber genau aus der Bedeutungsgewissheit seine eigene Frühgeschichte in den Blick nahm.

Ensemble in Arbeitsumgebung
Rita Newman/Theater der Jugend
Aufräumen im Archiv: Thomas Bernhards „Ein Kind“ kommt nicht in einer romantischen Wiesenlandschaft zur Welt

„Die Ursache bin ich selbst“

„Die Ursache bin ich selbst“, hieß nicht von ungefähr eine Dokumentation zum Werk Bernhards – und auch wenn sein Schreiben die Höchstform eines künstlichen Kosmos sein mag, so soll es doch immer aus einer erkennbaren und vor allem emotionalisierbaren Realität abgeleitet werden. Nicht umsonst sagt das Ich in „Ein Kind“ sinngemäß: Hätte ich es nicht alles erlebt, ich hätte es genau so erdichten müssen.

Regisseur Gerald Maria Bauer wagt mit der Dramatisierung dieser Prosaarbeit Bernhards ein Experiment, ist es doch eine Autobiografie ohne jede Form der direkten Rede, kurz: das Gegenteil eines dramatischen wie dramatisierbaren Textes. Bauer geht es wohl um die Frage, ob die Abhängigkeit seiner Generation von der Aura des Bernhardschen Werkes auf eine jüngere Generation übertragbar sei, und nicht zuletzt, ob man Bernhard einem ganz jungen Publikum zumuten könne.

Die Kindheit erschlossen über das Archiv

Bauer siedelt Bernhards Autobiografie im Archiv an – was sich wie ein besonderes Bonmot liest, hatte die Republik doch gerade für eine Rekordsumme den Nachlass jenes Autors erworben, der ja jede Aufführung seiner Arbeiten in Österreich während der Gültigkeit des Urheberrechts untersagt hatte.

Dass Bernhard schon zur Direktionszeit Achim Bennings Burgtheater Aufführungen seiner Arbeiten verboten hatte, weil er im Rennen um die Burgführung 1976 unterlegen war, ist mittlerweile ebenso in Vergessenheit geraten wie man in der Gegenwart die Verfügungen Bernhards mehr als ein Kunstwerk denn eine rechtliche Anweisung liest.

Hauptdarsteller in Ein Kind
Rita Newman/Theater der Jugend
Jasper Engelhardt in der Rolle des jungen autobiografischen Ichs

Bernhards Text „Ein Kind“ springt im Lauf eines zweieinhalbstündigen Abends auf eine Gruppe von Darstellern auf. Ein junger Mann und ein leicht älteres Ego (Jasper Engelhardt und Valentin Späth) sollen wohl die Doppelung des autobiografischen Ichs bringen. Und Mutter und Großvater (Violetta Zupancic und David Fuchs) stehen ebenso im Feld der Bühne wie zeitweilige Weggenossen der Vergangenheit.

„Ich begnügte mich mit der Selbstbewunderung“

Das Stück beginnt mit dem vielleicht tatsächlich Besten, das dieses Buch zu bieten hat: mit der Fahrradfahrt in Traunstein, die vielleicht ein Ausbruchsversuch aus der eigenen Kindheit war – jedenfalls eine verwegene Tat, in der sich das Kind über seine eigene Kleinheit oder Begrenztheit selbst erhebt. „Sind wir auf der Höhe, wünschen wir den Beobachter als Bewunderer wie sonst nichts herbei, aber dieser Beobachter als Bewunderer fehlte. Ich begnügte mich mit der Selbstbeobachtung und Selbstbewunderung“, heißt es in der Vorlage.

Die Radszene lässt Bernhards autobiografischen Text seit je als eine Arbeit hellerer, freundlicherer Stimmungen dastehen als manch anderes, gerade autobiografisches Werk. Man geht in der Familienaufstellung tatsächlich durch die Biografie des Autors bis zur Kaufmannslehre, in der so etwas wie die spätere Positionierung des Autors Bernhard verortet wird: Annäherung und Ablehnung der Welt, beides sei im Kaufmannsladen erworben worden.

Ein sehr beweglicher Text

Tatsächlich funktioniert das doppelte Ich auf der Bühne gut. Niemand hat je eine klare Funktion dabei, eher springt der Text schon innerhalb der Satzgrenze von einer Person auf die andere über. Und so hat auch der Rest der Familie die Aufgabe, dieses Textkonvolut zu bewältigen, wobei dem Großvater die Rolle der Echokammer des Gesamtwerkes zukommt. Das ist künstlerisch verständlich, zieht aber gerade der Sehnsuchtsfigur des Großvaters in gewisser Weise den Nerv. Der Großvater, er sollte am Ende dann doch mehr der Welteröffner und Anker einer im Grunde unsicheren Person sein als eine Erzählinstanz, wie man sie etwa aus der „Auslöschung“ kennt.

Szenenbild mit Vormund
Rita Newman/Theater der Jugend
David Fuchs in der Rolle des Großvaters und Kommunikators des Gesamtwerks

Eine unschuldige Kindheitswelt, ja ein früheres Paradies, gibt es bei Bernhard nicht. Vor allem die Mutter ist eine stets Abwesende, nicht zuletzt Zurückweisende. Diese Leerstelle macht die Inszenierung mehr als deutlich.

Vielleicht ist aber am Ende dann doch zu viel Gesamtzusammenhang Bernhards in diesem Bühnenumsetzungsdrang drinnen. Bernhards Text lebt eben genau von den Hinterfragungen der Perspektive und der späteren Einordnung auf die Kindheit. Doch eine poetische Luft, wie in Peter Handkes „Immer noch Sturm“, fehlt in dieser Vorlage. Zumindest ein bisschen weniger Dichte beim Text hätte mehr Luft für die Perspektive gelassen. So darf man sich auf der anderen Seite im Alter von 13 aufwärts in der Erkenntnis wähnen, einen ganz schönen Brocken des Bernhardschen Gesamtwerks an einem Abend serviert bekommen zu haben.