Beobachter sehen in den Wahlen einen wichtigen „Wendepunkt“. „Die Wahlen werden bestimmen, welche Politiken und Entscheidungen das Land treffen wird, um sich aus dem Loch zu befreien, in dem es sich derzeit wirtschaftlich und sicherheitstechnisch befindet“, sagte die Nigeria-Expertin Leena Koni Hoffmann des Thinktanks Chatham House gegenüber ORF.at. „Alles steht auf dem Spiel.“
Das große Land mit mehr als 200 Millionen Einwohnern und Einwohnerinnen gilt als Vorreiter für die Demokratie in ganz Afrika, kämpft aber selbst mit politischen, sozialen und wirtschaftlichen Krisen. 17 Kandidaten und eine Kandidatin sind nun für das Präsidentenamt im Rennen. Nach zwei Amtszeiten darf der 80-jährige Amtsinhaber Muhammadu Buhari nicht mehr antreten.

Zwei der drei Kandidaten im Spitzenfeld über 70 Jahre
Hoffnungen auf seine Nachfolge können sich vor allem drei Kandidaten machen. Die Vertreter der beiden größten Parteien sind allerdings nicht viel jünger als Buhari. Bola Ahmed Tinubu, Kandidat der regierenden Partei Kongress aller Progressiven (APC, All Progressives Congress) und enger Vertrauter Buharis, ist 70 Jahre alt. Atiku Abubakar von der Demokratischen Volkspartei (PDP), der stärksten Oppositionspartei, ist 76.
Vor allem Tinubu kann auf ein umfangreiches Parteinetzwerk zurückgreifen. Die APC kontrolliert derzeit 21 von 36 Bundesstaaten. Der Analyse des Thinktanks International Crisis Group (ICG) zufolge dürfte sein Rückhalt vor allem im Süd- und Nordwesten besonders stark sein. Seine Gegner werfen ihm Bereicherung während seiner Zeit als Gouverneur des Bundesstaates Lagos vor. Er wies diese Vorwürfe stets zurück.
Über 250 Ethnien
Zu den größten Volksgruppen in Nigeria zählen:
- Hausa: muslimisch, vor allem im Norden
- Yoruba: keine vorherrschende Religion, mehrheitlich im Südwesten
- Igbo: christlich, dominant im Süden
Sechster Anlauf für Abubakar
Der ehemalige Vizepräsident Abubakar kandidiert bereits zum sechsten Mal für das Präsidentenamt. Seine Anhänger sehen in ihm eine Chance, das ethnisch und religiös zerrissene Land aufgrund seiner offenen Einstellung gegenüber Beschäftigung von Arbeitskräften und Heirat von Frauen auch über ethnische Grenzen hinweg zu einen.
Für einige spricht aber dagegen, dass mit Abubakar nach Buhari wieder ein muslimischer Hausa aus dem Norden das Amt übernähme. Der Tradition folgend kommt der Präsident abwechselnd aus dem Norden und dem Süden. Große ideologische Unterschiede gibt es zwischen den Kandidaten der beiden großen Parteien kaum.
Außenseiter auf der Überholspur
Der Wahlausgang ist schwierig vorherzusagen. In mehreren aktuellen Umfragen führen derzeit aber nicht die beiden von großen Parteien unterstützten Kandidaten, sondern einer, der als Außenseiter ins Rennen gegangen war. Als ehemaliger Gouverneur sammelte Peter Obi, ein Igbo aus dem Süden des Landes, zwar bereits Erfahrung in der Politik. Der 61-Jährige machte aber Karriere in der Wirtschaft und wechselte zuletzt von der PDP zur kleineren Labour-Partei. Gelingt ihm der Sprung ins Präsidentenamt, wäre das ein Novum: Seit mehreren Jahrzehnten erreichte kein Igbo dieses Amt.

Ausschlaggebend für Obis Sieg ist eine hohe Wahlbeteiligung. 2019 lag die Wahlbeteiligung der unter 35-Jährigen bei nur 46 Prozent. Bei seinem Programm unterscheidet er sich aber kaum von seinen beiden Herausforderern: Wirtschaft wiederbeleben, Sicherheit herstellen, Investitionen in Bildung. Obi gewann das Image des Reformers.
Wahlkampf in sozialen Netzwerken
Zu seinen Anhängern und Anhängerinnen zählen vor allem junge Nigerianer, die sich von ihm einen Wechsel und einen Kampf gegen die um sich greifende Korruption erhoffen. Viele derjenigen, die im Herbst 2020 gegen Polizeigewalt auf die Straße gegangen waren, zählen nun zu Obis Unterstützern. Die Stimmen der Jungen könnten der ausschlaggebende Faktor bei der Wahlentscheidung sein. Obi setzt besonders auf soziale Netzwerke wie Twitter und Instagram.

Soziale Netzwerke gewannen aber im gesamten Land an Bedeutung. Schätzungen zufolge haben 80 Millionen Nigerianer einen Internetzugang. Nach Recherchen der BBC bezahlten politische Parteien in Nigeria heimlich Influencer, um vor der Wahl Desinformation über ihre politischen Gegner zu verbreiten. Zwei prominente Influencer bestätigten der BBC, dass sich da eine regelrechte „Industrie“ dazu entwickelt habe – falsche politische Beiträge gegen Bargeld, großzügige Geschenke und auch politische Ernennungen.
„Gegengewicht zu Käuflichkeit und Gier“
In ihrer Analyse sieht ICG Obi jedenfalls als „Gegengewicht“ zu dem, „was viele als Käuflichkeit und Gier des politischen Establishments“ sehen. Er werde vor allem durch junge Wähler und die Mittel- und Unterschicht der Igbo unterstützt. Nicht-Igbos hoffen durch Obi auf eine größere Gleichheit zwischen den ethnischen Gruppen.

Als früherer Gouverneur des Bundesstaates Anambra galt Obi als besonders sparsam im Umgang mit öffentlichen Geldern, berichtete ICG. Ihm fehlen aber die Parteinetzwerke wie den APC- und PDP-Kandidaten und damit auch öffentlich zugängliche Gelder. Auch im überwiegend muslimischen Norden und in der von Tinubu kontrollierten Yoruba-Hochburg mit der Millionenmetropole Lagos könnte Obi Schwierigkeiten haben, ausreichend Stimmen zu bekommen.
Präsidentenwahl in Nigeria
Im sehr großen und armen afrikanischen Land Nigeria finden am Samstag Wahlen statt. Erstmals gibt es gleich drei aussichtsreiche Kandidaten, der Wahlausgang ist offen wie noch nie und die Sicherheitslage äußerst angespannt.
Kampf gegen Wahlfälschung
Die Herausforderungen, die Buharis Nachfolger zu meistern hat, sind groß. Das Land kämpft mit enormen Sicherheitsproblemen durch Bandenkriminalität und ethnische Spannungen, wirtschaftlichen Problemen und Korruption. Vor allem die jungen, gut ausgebildeten Nigerianer und Nigerianerinnen leiden an einer hohen Arbeitslosigkeit.
Fast ein Vierteljahrhundert sind nun in Nigeria Zivilregierungen an der Macht. In der Vergangenheit gab es bei Wahlen immer wieder logistische Verzögerungen, Gewalt und Vorwürfe von Wahlbetrug und Stimmenkauf. Mit biometrischen Verfahren – also mit Fingerabdrücken und Gesichtserkennung zur Identifikation der Wähler – wollte die nigerianische Wahlkommission INEC Wahlbetrug verhindern.
Zudem sollen die Stimmzettel elektronisch aus den Wahllokalen in die Hauptstadt Abuja übermittelt werden. Allerdings gibt es Berichte, dass Politiker mit anderen Strategien die Stimmen ärmerer Bürger und Bürgerinnen kaufen, heißt es im ICG-Bericht. Mehr als ein Viertel der registrierten Wähler und Wählerinnen, rund 24 Millionen, wäre laut einer Umfrage von Ende vergangenen Jahres bereit, die Stimme zu verkaufen.
Große Sicherheitsbedenken
400.000 Polizisten und Polizistinnen sollen die Sicherheit rund um die Wahlen gewährleisten. 240 neue Wahllokale werden wegen der Unsicherheit nicht genutzt. Schon seit Beginn des Wahlkampfes im Herbst gab es mehrere Angriffe auf Büros der Wahlbehörde. Am Wahltag selbst ist aus Sicherheitsgründen die Bewegungsfreiheit eingeschränkt.

Bulama Bukarti vom Tony Blair Institute for Global Change in London sieht in den Sicherheitsproblemen eine „kritische, ernsthafte Bedrohung für Nigerias Demokratie“: „Die nicht staatlichen bewaffneten Gruppen werden alles tun, was in ihrer Macht steht, um die Wahlen in Nigeria zu stören.“ Nur wenige Tage vor der Wahl wurde ein für den Senat kandidierender Oppositionspolitiker der Labour Party auf dem Rückweg von einer Wahlkampfveranstaltung erschossen. Es wird ein politischer Anschlag vermutet.
Universitäten mehrere Wochen geschlossen
Universitäten wurden angewiesen, drei Wochen zu schließen. Bildungseinrichtungen waren in der Vergangenheit immer wieder Ziel von Angriffen und Entführungen. Zudem sichert diese Maßnahme auch, dass junge Wähler und Wählerinnen ihre Stimme abgeben können, da das nur im eigenen Wahlkreis möglich ist.
Zusätzlich erschwerend kam nun ein misslungener Austausch von Banknoten hinzu, der eine enorme Geldknappheit ausgelöst hatte, da zu wenig Banknoten verfügbar oder nur teuer auf dem Schwarzmarkt zu bekommen waren. Die Wahlkommission warnte davor, dass Treibstoff- und Bargeldknappheit die Bezahlung des Logistikpersonals und den Transport der für den Wahlgang benötigten Materialien beeinträchtigen könnten, berichtete „Foreign Policy“.
Und auch die Hoffnung der Regierung, dass mit dem Währungstausch und der damit verringerten Bargeldmenge dem Stimmenkauf ein Riegel vorgeschoben würde, ist eher unwahrscheinlich. Schließlich erfolgt der Stimmenkauf auch mit Dollar.