Heiligenfigur und Menschen mit Kopfmasken
Susanne Hassler-Smith / Burgtheater
„Maria Blut“

Eine Lourdesgrotte für Nazi-Aufsteiger

Geäußertes Unverständnis ist die Essenz eines Wiener Theaterbesuchs. Die Uraufführung der „Eingeborenen von Maria Blut“ nach Maria Lazar wird jene ins Mark treffen, die sich im Theater immer noch Theater erwarten. Deutlich wurde am Freitagabend im Akademietheater, was passiert, wenn klassische Dramaturgie die Hand nach neuen Erzählformen ausstreckt – und tatsächlich auch die Sprache von Formaten wie „Copenhagen Cowboy“ auf der Bühne nutzen will.

Der Beitrag von Frauen zur Literatur der Zwischenkriegszeit und damit der fragilen Ersten Republik ist im Kanon der Kulturgeschichtsschreibung gerne übersehen worden. Dank editorischer Leistungen wie jener des Verlags der Vergessenen Bücher von Albert C. Eibl und der germanistischen Forschung in Wien durch Johann Sonnleitner sind Namen wie jener der Autorin Maria Lazar vor dem Vergessen bewahrt worden.

Die österreichische Jüdin Lazar, die bereits 1933 die Einladung auf die dänische Insel Thuroe annahm und fortan im skandinavischen Exil leben würde, kann als sehr direkte Chronistin des Verfalls der Gesellschaften Österreichs und auch der Weimarer Republik gesehen werden. Ihr Roman „Die Eingeborenen von Maria Blut“, begonnen mit den Amtsantritten von Adolf Hitler und Engelbert Dollfuß und vollendet im dänischen Exil, ist dabei ein hellseherisches Schlüsselwerk zum Gang der Entwicklungen Österreichs bis 1938. Denn Lazar sieht sehr genau hin auf die spezifisch österreichische Mischung, die hinter der Scheinheiligkeit gerade den Aufstieg der Nationalsozialisten im Schatten katholischer Heiligenfiguren begünstigt.

Szenenbild Kinder mit Maske vor brüllender Frau
Susanne Hassler-Smith / Burgtheater
Theater am Fuße der Scheinheiligkeit: Stefanie Dvorak als Haushälterin des Wieners Doktor Lohmann

Eine Lourdesgrotte für den Aufstieg der Nazis

In ihrem fiktiven Ort Maria Blut mit seiner mehr als 700-jährigen Andachtstradition lässt sie die Auseinandersetzungen der jüngeren Geschichte in einem Gewirr von Stimmen und Charakteren stranden. In diesem Maria Blut gibt es eine lange dörfliche Kultur fester katholischer und sozialer Riten. Außenseiter stören in dieser ländlichen Regionalfestung.

Doch Lazar stellt die Außenseiter mitten hinein: den jüngst verwitweten Wiener Doktor Lohmann (Philipp Hauß), aber auch den Juden Meyer-Löw (Dorothee Hartinger). In dem Wallfahrtsort, der sich auch als „das österreichische Lourdes“ bezeichnet, sind die Außenseiter wichtige Sündenböcke – und die braucht es in einer Welt, in der der Tratsch alles ist und der Fakt immer nur in negativer Gestalt auftritt.

Akademietheater: Stück von Maria Lazar

Das Akademietheater zeigt eine Bühnenfassung des Romans „Die Eingeborenen von Maria Blut“. Die jüdische Autorin Maria Lazar schildert darin das Heranreifen des Nationalsozialismus.

Hoffnung gibt es wenig, und von den Stimmlosen gibt es viele, allen voran hier der „Pimperl“, der Vinzenz (Jonas Hackmann), der erst zur Stimme kommen wird, wenn sich eine neue rassische Zeit am Horizont auftut. Dass der Investor Schellenbach aus der siechenden Konservenfabrik des Ortes bald die schillernde Firma mit dem Namen „Raumkraft“ machen würde, stellt sich rasch als Illusion heraus. Auch Schellenbach wird man, um die eigene Ahnungslosigkeit zu kaschieren, zur Sicherheit unterstellen, „ein Jud“ zu sein.

Szenebild aus den Eigeborenen von Maria Blut
Susanne Hassler-Smith / Burgtheater
Zwei Außenseiter: Doktor Lohmann (Philipp Hauß) und der Anwalt Meyer-Löw (Dorothee Hartinger)

Eine Welt dauernder Bedrohung

Es wimmelt vor Bedrohungen in Maria Blut – und die größte scheint die eines marxistischen Umsturzes zu sein. Diese Angst karikiert Lazar vielleicht mit der größten Lust – und rührt damit an einen Topos, der ja bis in die Gegenwart bedient wird. Das Land, es sei „von den Linken“ regiert, wobei sich schon bei Lazar zeigt: Die Linken, sie sind mehr von Phlegma als von Handlungsfähigkeit beseelt.

„Es wird einer kommen, der wird zu was führen“, heißt es im Text. Es sind die lauernden Sätze bei Lazar, die die Regisseurin und Verfasserin der Bühnenversion dieses Buches Lucia Bihler angetrieben zu haben scheinen. Bihler steht mit ihrer Arbeit beweglich in der Gegenwart und weiß, dass sie auf ein hochkarätiges Ensemble zurückgreifen kann, das sie über knapp zwei Stunden in einen Abend der Versatzstücke schicken wird.

Typisierung und Konkretisierung halten sich bei dieser Bühnenversion die Waage. Mal sind es konkrete Gestalten, mal Menschen mit übergroßen Puppenköpfen, die von Sprechern am Bühnenrand gedoppelt werden. Zusätzlich wird eine Erzählstimme im Hintergrund eingeführt, sodass man die Augen zumachen und einem Hörspiel folgen könnte, so klar wird auch ohne Blick auf die Bühne, was hier an diesem Abend abläuft.

Doch wenn die Erzählerin spricht, ist es auch trügerisch, leuchtet in diesen Momenten die überdimensionale Marienstatute in der Bühnenmitte. Sollte sie es gar sein, die hier spricht? Zu der Pathologie dieses Lourdes-Ortes würde es passen. Auf eine Bühne mit Verortbarkeiten schaut man hier ohnedies nicht, eher blickt man in alle Abgründe, die man im Lauf eines österreichischen Lebens an katholischen Erinnerungsorten mitgenommen hat.

Marienstatute mit kaputten Statuenteilen
Susanne Hassler-Smith / Burgtheater
Wie viele große Heilige verträgt die Welt?

Durchschaue und fürchte dich trotzdem!

Regisseurin Bihler hat auf der Bühne von Jessica Rockstroh, mit den Kostümen von Victoria Behr und der Musik und dem Sounddesign von Jacob Suske nicht weniger als das Schaffen einer Spannung zwischen getakteter Dauer-Atmo und grundlegender Befremdung vor. Im Grunde muss hier immer wieder das Gleiche passieren. Und im Grunde werden die billigen Tricks aus dem Abstellraum des modernen Theaterhandwerks sehr schonungslos als solche – und mitunter dann doch erschreckend – eingesetzt.

Durchschaue es und fürchte dich trotzdem! Diese Losung zieht sich auch durch die Arbeit des David-Lynch- und Lars-von-Trier-Schülers Nicolas Winding Refn, der mit „Copenhagen Cowboy“ die Erzählhaltungen von Serienplattformen ordentlich durcheinanderwürfelt und zugleich die unterschiedlichsten Schichten in seinen Bann zieht. Es geht hier nicht mehr um Provokation, sondern um das elend lange Auswälzen von Atmosphäre, um damit unsere Sehgewohnheiten neu zu kalibrieren. Moral und Tabus dürfen in dieser Erzählhaltung keine Rolle mehr spielen – nicht aus dem Geist der Provokation, sondern für das Eröffnen neuer Betrachtungsweisen.

Dieses Theater handelt ähnlich und fordert damit Theater auf seinem eigenen Boden heraus. Das ist immer prekär und beansprucht die Geduld. Dennoch wird es in den letzten zehn Minuten erfolgreich. Bis dahin hat man alle Klischees durch- und niedergeritten. Und die letzten zehn Minuten des Stücks bringen die Vorlage auf den Punkt, belegen den Sinn, genau auf dieses Buch zu greifen, genau auf die Drastik der einschüchternden Heiligenfigur zu setzen. Das ist keine klassische Dramaturgie mehr – obwohl uns dauernd die Versatzstücke des Dramaturgischen und des Theaterhandwerks begegnen. So wie eben Serien nicht Kinofolgen hintereinander sind – sondern im Normalfall Suchtmittel, im Idealfall aber eine grundsätzliche Befragung, wie erzählt und beim Erzählen eben nicht mehr gewertet werden soll.

Diese Arbeit ist ein Glücksfall, wenn man freilich nicht ins Theater gehen will, um Theater sehen zu wollen. Und in jedem Fall eine Position des Theaters zu der Welt, die diese etablierte Kunstform umgibt.