Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskiy
Reuters/Valentyn Ogirenko
Korruption und Streitigkeiten

Selenskyjs schwere Probleme in der Ukraine

Neben dem Krieg gegen Russland holt den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nun auch die Innenpolitik ein: von vorerst beendeten Streitigkeiten mit dem Bürgermeister von Kiew, Witali Klitschko – einem potenziellen innenpolitischen Gegner –, bis zu Korruptionsvorwürfen gegen Regierungsmitglieder und die Armee.

In der Ukraine sieht es laut dem jüngsten Korruptionsindex von Transparency International aus dem Jahr 2021 in Sachen Korruption nicht viel besser als in Russland aus: Die Ukraine belegte in der Statistik Platz 122 von 180. Russland belegte gemeinsam mit Liberia und Mali Platz 136. Zum Vergleich: Österreich hatte Platz 13, Deutschland Platz zehn.

Immer wieder wird deshalb befürchtet, dass auch Hilfsgelder des Westens in undurchsichtigen Kanälen versickern könnten. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer meinen, dass sich die Führung des Landes im Zuge der humanitären Unterstützung an Finanzhilfen bereichere.

Ukrainische Soldaten tragen Konserven in Unterkunft
IMAGO/Ashley Chan
Ukrainische Soldaten tragen Dosen mit Lebensmitteln in eine Unterkunft

Selenskyj will auf Transparenz setzen

Selenskyj kündigte nach den jüngsten Korruptionsskandalen in Kiew ein entschlosseneres Vorgehen gegen Fehlverhalten im Staatsapparat an. „Die Gesellschaft wird alle Informationen bekommen, und der Staat wird die notwendigen mächtigen Schritte ergreifen“, sagte Selenskyj am Sonntag in seiner in Kiew verbreiteten allabendlichen Videobotschaft.

Er informierte unter anderem darüber, dass der festgenommene Vizeminister für die Entwicklung von Gemeinden, Territorien und Infrastruktur, Wassyl Losynskyj, entlassen worden sei. Medien zufolge soll Losynskyj für die Anschaffung von Generatoren zur Bewältigung der Energiekrise im Land 400.000 Dollar (rund 370.000 Euro) an Schmiergeld kassiert haben.

Verteidigungsminister muss sich rechtfertigen

Selenskyj reagierte mit seiner Videobotschaft auch auf Medienberichte über einen überteuerten Ankauf von Lebensmitteln für Soldaten. Es sollen Preise gezahlt worden sein, die dreifach über jenen im Einzelhandel liegen. Auch hier sollen sich Staatsdiener bereichert haben.

Der Verteidigungsausschuss des Parlaments fand nach eigenen Angaben keine Bestätigung für die Korruptionsvorwürfe. „Wir haben alle den Vertrag gesehen und die Ziffern, die (in der Presse) gezeigt wurden, entsprechen nicht den Tatsachen“, sagte der Ausschussvorsitzende Olexandr Sawitnewytsch von der Präsidentenpartei Diener des Volkes am Montag im einheitlichen Nachrichtenprogramm des Fernsehens. Der Vertrag sei von allen Ausschussmitgliedern eingesehen worden. Für personelle Konsequenzen sei es noch zu früh. „Wenn die Sache vor Gericht geht, dann kann man von Personalentscheidungen reden“, sagte der 49-Jährige.

Auch der Rechnungshof soll das Verteidigungsministerium unter die Lupe nehmen. Der betreffende Vertrag hat laut der Nachrichtenwebsite Zn.ua ein Volumen von umgerechnet 325 Millionen Euro. Bei dem Vertrag soll es sich laut Medien nicht um die Verpflegung der Soldaten an der Front, sondern im Hinterland handeln.

„Keine faktische Grundlage für Vorwürfe“

Verteidigungsminister Olexij Resnikow meldete sich via Facebook zu Wort, um die Vorwürfe strikt zurückzuweisen: „Offensichtlichstes Ziel scheint der Versuch zu sein, das Vertrauen in das Verteidigungsministerium zu einem sehr wichtigen Zeitpunkt zu untergraben“, schrieb der Minister. Es gebe keinerlei faktische Grundlage für die Vorwürfe. Resnikow garantierte für die Untersuchungen völlige Transparenz.

„Tatsächlich ist das ein gewöhnlicher technischer Fehler, den der Lieferant gemacht hat“, erklärte der Minister die Preise für Eier. Statt Stückpreisen sei der 100-Gramm-Preis angegeben worden. Das würde den dreimal so hohen Preis im Vergleich zu Einzelhandelspreisen in Kiew erklären. Transportkosten einschließlich der Risiken für frontnahe Belieferung führten zu höheren Preisen. Für jeden Soldaten seien täglich Verpflegungskosten von umgerechnet knapp 3,40 Euro vorgesehen.

Außenansicht der ukrainischen Parlaments
APA/AFP/Sergei Supinsky
Das Parlament der Ukraine in Kiew

Ministerium weist Korruptionsvorwürfe zurück

Das ukrainische Verteidigungsministerium hatte die Korruptionsvorwürfe im Zusammenhang mit der Beschaffung von Lebensmitteln für das Militär zuvor bereits zurückgewiesen. Die Verpflegung für die Soldaten sei gemäß „dem gesetzlich festgelegten Verfahren“ gekauft worden, so das Ministerium. Anderslautende Medienberichte seien „falsch“. Es werde eine Untersuchung eingeleitet wegen der Verbreitung dieser „irreführenden“ Informationen, die den „Verteidigungsinteressen“ der Ukraine schadeten.

Im Sommer 2022 musste Selenskyj die Militärführung nach heftiger Kritik an Meldeauflagen für Wehrpflichtige zurechtweisen. Er bitte „den Generalstab, derartige Entscheidungen nicht ohne mich zu treffen“, so Selenskyj damals. Im Sommer musste die ukrainische Regierung nach den Entlassungen des Geheimdienstchefs und anderer Führungskräfte die Neuausrichtung der Behörde vorantreiben. Auch kurz nach Kriegsbeginn musste Selenskyj Generäle entlassen. Es seien Verräter gewesen, hieß es.

Entscheidungen sollen nächste Woche bekanntwerden

Selenskyj kündigte am Sonntag für diese Woche Entscheidungen an, die bereits getroffen, aber noch nicht veröffentlicht seien, um die Korruption und Bereicherung im Amt weiter zu bekämpfen. „Ich bin den Journalisten dankbar, die sich mit den Fakten beschäftigen und das ganze Bild erstellen“, sagte er zu den Enthüllungen.

Selenskyj sagte, dass das Hauptaugenmerk zwar auf der Verteidigung des Landes im Krieg gegen Russland liege. Trotzdem sei ihm bewusst, dass in der Gesellschaft auch über diese Fälle gesprochen werde. Um der Gerechtigkeit willen müsse gehandelt werden.

Der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko
Reuters/Valentyn Ogirenko
Der Kiewer Bürgermeister Witali Klitschko, ein innenpolitischer Gegner Selenskyjs seit Friedenszeiten

„Zwei Kriege“

Die Regierung in Kiew hat laut der ukrainischen Staatsanwaltschaft allerdings auch während des Krieges gegen Russland ihre Antikorruptionsbemühungen vorangetrieben. Die zuständige Staatsanwaltschaft berichtete der Nachrichtenagentur Reuters im Dezember von mindestens 109 Anklagen in 42 Fällen und 25 Verurteilungen.

Ein hochrangiges Mitglied des zuständigen Ausschusses im Parlament, Jaroslaw Jurtschyschyn, sprach von zwei Kriegen, die sein Land gleichzeitig führe: der eine gegen Russland, der andere gegen die Korruption, die ihre Wurzeln in der Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion habe.

Zentrale Bedingung für EU-Beitritt

Behörden verwiesen dabei auf die dringende Notwendigkeit, potenzielle westliche Geldgeber davon zu überzeugen, dass Milliardeninvestitionen für den Wiederaufbau nicht in dunkle Kanäle versickern würden. Die Bemühungen gelten auch als zentrale Bedingung für das langfristige Ziel einer EU-Mitgliedschaft.

Die Ukraine erhielt im Juni unter dem Eindruck der russischen Invasion den Kandidatenstatus. Einer Umfrage von Anfang November zufolge gehen mindestens 88 Prozent der Ukrainer davon aus, dass ihr Land in zehn Jahren ein wohlhabendes Mitglied der EU sein wird.

Streitigkeiten mit Klitschko

Auch die nächste Präsidentschaftswahl schlägt trotz der Kriegszeiten politisch durch. Erst im November galt ein Streit mit dem Kiewer Bürgermeister Klitschko für beendet. Die Streitigkeiten zwischen Klitschko und Selenskyj sind allerdings weitaus älter: Schon als Komiker nahm Selenskyj bevorzugt Klitschko und dessen rhetorische Schwächen aufs Korn, wie der „Standard“ schreibt.

Im Präsidentschaftswahlkampf 2019 setzte sich Selenskyj schließlich gegen Amtsinhaber Petro Poroschenko durch – nicht zur Freude Klitschkos, eines Verbündeten Poroschenkos. Schon damals habe Selenskyj versucht, den Kiewer Bürgermeister durch einen eigenen Gefolgsmann zu ersetzen. Laut Beobachtern gehe es dabei auch um die Kontrolle der Geldflüsse, so der „Standard“.

Klitschko: Innenpolitik spielen, wenn Krieg vorbei ist

Klitschko rief in seinem bisher bekannten jüngsten Konflikt mit Selenskyj im November erneut zur Einheit auf. Dieser Konflikt hatte sich an den Aufwärmpunkten in Kiew entzündet. Selenskyj hatte die Kiewer Stadtverwaltung wegen angeblich nicht funktionierender Aufwärmpunkte kritisiert. Klitschko wurde dabei nicht namentlich genannt. Anschließend kontrollierten Abgeordnete der Präsidentenpartei Diener des Volkes die Funktion dieser „Punkte der Unzerstörbarkeit“.

„Wenn der Krieg vorbei ist, dann kann man Innenpolitik spielen“, sagte Klitschko in einem Interview mit der Nachrichtenagentur RBK-Ukraine. Die Einigkeit aller sei jedoch für den ukrainischen Sieg nötig. „Einen gewählten Bürgermeister kann kein Beamter ernennen oder entlassen.“ Klitschko regiert Kiew seit 2014. Er gilt als möglicher Gegner Selenskyjs bei der im März 2024 erwarteten Präsidentschaftswahl.