Soldatenfriedhof bei Charkiv in der Ukraine
IMAGO/ Le Pictoriu/Sadak Souici
Ukraine-Krieg

Opferzahlen im „Nebel des Krieges“

Seit rund elf Monaten tobt der Krieg in der Ukraine – und mit ihm sind Zerstörung, Leid und Tod gekommen. Doch wie viele Menschen tatsächlich ums Leben gekommen sind, ist völlig unklar. Je genauer die Opferdokumentation ist, desto größer ist die Dunkelziffer. Die UNO sprach zuletzt von rund 7.000 getöteten Zivilistinnen und Zivilisten. Die Verluste bei den Armeen liegen wohl jeweils im sechsstelligen Bereich – doch diese Daten werden von den Kriegsparteien für ihre Propaganda verwendet.

Sowohl Russland als auch die Ukraine betonen die Verluste der Gegenseite – über die eigenen hüllen sie sich zumeist in Schweigen: Denn der Krieg wird auch mit Informationen geführt, und die Opferzahlen sind zu einem Teil des Infokriegs geworden. Gesicherte Fakten gibt es im „Nebel des Kriegs“ aber auch aus anderen Gründen nicht: Unabhängige Berichte sind aus den umkämpften Gebieten kaum zu bekommen.

Aufhorchen ließ zuletzt der norwegische Generalstabschef Eirik Kristoffersen in einem Interview mit dem norwegischen Sender TV2. Er meinte, dass bisher fast 180.000 russische Soldaten getötet oder verletzt worden seien. Auf ukrainischer Seite seien vermutlich mehr als 100.000 Soldaten tot oder verwundet, sagte er. Zudem seien bisher 30.000 ukrainische Zivilistinnen und Zivilisten getötet worden. Auf welchen Quellen die Zahlen beruhen, sagte er nicht.

Ukraine veröffentlicht täglich Zahlen

Diese Daten sind jedenfalls deutlich höher als die meisten anderen Schätzungen. Nur die britische Boulevardzeitung „The Sun“ hatte zuletzt von 188.000 toten oder verwundeten Russen berichtet – ebenfalls mit vager Beschreibung ihrer Quellen. Sie zitierte US-Armeegeneral Mark Milley, der davon sprach, dass die Verluste nun „deutlich über 100.000“ liegen würden – ohne aber eine genaue Zahl zu nennen. Im November hatte Milley noch die Zahl 100.000 für beide Seiten genannt.

Das ukrainische Militär veröffentlicht täglich neue Zahlen, wie viele russische Soldaten außer Gefecht gesetzt worden seien – und eine ganze Reihe an anderen Daten von Militärgerätschaft, die die Verluste des Gegners dokumentieren sollen. Derzeit hält man bei rund 123.000 „liquidierten“ russischen Soldaten – eine Zahl, die von allen Beobachtern als für Propagandazwecke absichtlich überhöht eingeschätzt wird.

Wie viele Tote, wie viele Verletzte?

Zudem wird nicht zwischen Toten und Verwundeten unterschieden. Über diesen Fehler stolperte Ende November auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die in einer Rede von 100.000 Toten in der ukrainischen Armee sprach – und sich nach großen Irritationen in Kiew korrigieren musste.

Bei Militärexperten gibt es unterschiedliche Annahmen, wie das Verhältnis von Toten und Verletzten von beiden kursierenden Daten sein könnte. Auf Basis früherer Kriege geht man von einem Verhältnis von drei zu eins aus, das heißt auf einen Toten kommen drei Verletzte. Entscheidend ist unter anderem, wie gut die medizinische Versorgung der Verwundeten funktioniert – und da gehen die Einschätzungen auseinander. Einige Experten sprechen von einem Verhältnis zwei zu eins, andere eher vier oder fünf zu eins.

Wenige gesicherte Informationen

Wie viele russische Soldaten tatsächlich gefallen sind, ist unklar: Russland selbst hüllt sich in Schweigen. Im September sprach Verteidigungsminister Sergej Schoigu von 5.937 Toten in den eigenen Reihen. Das war aber lange vor den verlustreichen Kämpfen um Bachmut und Soledar. Zudem wurden zuletzt auch nach der Teilmobilmachung im Herbst eher schlecht ausgebildete Rekruten eingesetzt. Und die Söldnertruppe Wagner schickte russische Strafgefangene in den Krieg. Militärexperten sprachen dabei oft von einer menschenverachtenden Praxis, „Kanonenfutter“ an die vorderste Front zu senden.

Von den 50.000 in russischen Gefängnissen angeworbenen Rekruten für den Krieg in der Ukraine sind nach Schätzungen von Bürgerrechtlern nur noch 10.000 bei der Truppe. „Die restlichen sind getötet, verletzt, verschollen, haben sich ergeben oder sind desertiert, unter anderem nach Russland mit der Waffe in der Hand“, teilte die Nichtregierungsorganisation (NGO) „Rus Sidjaschtschaja“ („Russland hinter Gittern“) am Montag auf ihrem Telegram-Kanal mit. Woher die NGO die Angaben hat, ist nicht ausgewiesen.

Trauerfeier in Samara
APA/AFP/Arden Arkman
Trauerfeier im russischen Samara: Viele Soldaten aus der Region starben bei einem Angriff auf ein russisches Quartier

Schwierige Zählung

Die im litauischen Exil arbeitende russische Nachrichtenwebsite Mediasona durchforstet gemeinsam mit dem russischen Service der BBC Lokalmedien und soziale Netzwerke, um gefallene russische Soldaten zu identifizieren. Mit Stand Mittwochnachmittag kam man bisher auf 11.662 Tote – betont aber, dass man bei Weitem nicht alle Gefallenen erfassen könnte. Die Zahl der Vermissten liege ganz im Dunkeln. Das Dupuy Institute, eine private US-Militärforschungseinrichtung, geht von rund 16.000 bis 19.000 getöteten und zwischen 64.000 bis 76.000 verwundeten Russen aus.

Ukrainische Verluste als Staatsgeheimnis

Besonders unklar sind die Verluste auf ukrainischer Seite. Aus Regierungskreisen war Anfang Dezember die vage Aussage von 10.000 bis 13.000 getöteten Militärangehörigen zu vernehmen. Das Dupuy Insitute schätzt 13.500 bis 16.500 Gefallene und zwischen 54.000 und 66.000 Verwundete bei der Ukraine – plus rund 6.000 in russischer Gefangenschaft.

Der US-Militärexperte Douglas Macgregor sprach vor Kurzem von 122.000 getöteten und 33.000 vermissten ukrainischen Soldaten – eine Zahl, die wohl politisch motiviert ist und keinem Faktencheck standhält. Macgregor war Berater von Ex-US-Präsident Donald Trump und ist ob seiner prorussischen Haltung umstritten.

Je genauer die Zählung, desto höher die Dunkelziffer

Als eine der besten Quellen zu Konfliktherden gilt die US-Non-Profit-Organisation ACLED (Armed Conflict Location & Event Data Project), die weltweit Daten zu Konflikten sammelt und aufbereitet. Nach ACLED-Zählung forderte der Krieg seit dem russischen Angriff in der Ukraine insgesamt rund 30.000 Todesopfer. Auch hier betont man, nur Fälle aufzunehmen, bei denen die Information gesichert ist – dementsprechend hoch sei die Dunkelziffer. Vor allem aus Gebieten, die noch umkämpft sind, sei es schwierig, Informationen zu bekommen.

Zerstörte Gebäude in Bachmut in der Ukraine
Reuters/Clodagh Kilcoyne
Die umkämpfte Stadt Bachmut hatte rund 74.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Nun gilt sie als völlig zerstört.

Ähnlich argumentiert auch das Büro des Hochkommissars für Menschenrechte (OHCHR) der UNO, das die zivilen Opfer des Krieges zählt: Mehr als 7000 Zivilistinnen und Zivilisten seien bisher getötet worden. „Die meisten der registrierten zivilen Opfer wurden durch den Einsatz von Sprengwaffen mit weitreichender Wirkung verursacht“, heißt es in der Erklärung von Mitte Jänner. Darunter fielen schwere Artillerie, Mehrfachraketenwerfer, Raketen und Luftangriffe. 7.031 Todesopfer in der Zivilbevölkerung seien bestätigt, ihre tatsächliche Zahl sei vermutlich aber „erheblich höher“.

Zehntausende Tote allein in Mariupol?

Vonseiten der ukrainischen Regierung hieß es zuletzt, 9.000 Zivilistinnen und Zivilisten seien getötet worden. Darunter seien 453 Kinder, sagte der Stabschef des Präsidenten, Andryj Jermak, in Davos. Doch auch hier geht man davon aus, dass die Zahl weit höher ist. Denn nicht berücksichtigt sind die direkten und indirekten Folgen des Kriegs, wie mangelnde Versorgung mit dem Notwendigsten und flächendeckende Ausfälle in der medizinischen Versorgung.

Und aus manchen Orten ist die Opferzahl immer noch unklar. Wie viele Menschen etwa bei der Belagerung von Mariupol im Frühjahr ums Leben kamen, kann kaum jemand abschätzen. Die UNO spricht von „Tausenden“, ukrainische Behörden setzten die Zahl zuletzt bei mindestens 25.000 an – andere Schätzungen sehen die Zahl der Opfer mehr als doppelt so hoch.