Schwedische Polizisten am Tatort
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Schüsse, Explosionen

Bandengewalt hält Schweden in Atem

Ein brutaler Krieg zwischen verfeindeten Gangs hält Schweden derzeit in Atem. Im Großraum Stockholm kam es zuletzt innerhalb weniger Stunden zu fünf Gewaltverbrechen, ein Mann wurde getötet. Das Wochenende sei eines der „schlimmsten seit Langem“ gewesen, sagte Ministerpräsident Ulf Kristersson am Samstag dem Sender SVT. Opfer und Täter sind zunehmend Minderjährige, der Polizei wird „Totalversagen“ bescheinigt.

Der Konservative Kristersson sprach sich angesichts der „eskalierenden Bandenkriminalität“ einmal mehr für härtere Maßnahmen aus: Straftäter müssten eingesperrt und diejenigen ohne schwedische Staatsbürgerschaft ausgewiesen werden. Es werde jedoch Zeit brauchen, bis man das Problem in den Griff bekommen werde, ergänzte er mit Blick auf den jahrelangen Kampf gegen andere Gewaltwellen wie in New York in den 90er Jahren und in jüngerer Vergangenheit auch im benachbarten Dänemark.

Schweden kämpft seit Jahren mit Konflikten zwischen rivalisierenden Gangs, bei denen es immer wieder zu Schüssen und vorsätzlich herbeigeführten Explosionen kommt, die Unbeteiligte treffen. 2022 kam es in dem EU-Land zu 388 Schusswaffenvorfällen, 61 Menschen starben. Jüngst hat sich die Lage in der Hauptstadt Stockholm abermals zugespitzt: Seit Weihnachten kam es dort zu mehr als 20 Gewalttaten dieser Art, darunter gleich mehrere am vergangenen Wochenende.

Zwei Menschen wurden während der erneuten Gewaltwelle getötet, zuletzt ein Mann am Freitagabend. Der schwedische Justizminister Gunnar Strömmer spricht von „Terroristen“. Es sei „unglaublich wichtig, dass wir nicht abstumpfen“, sagte er. Die Möglichkeiten zum Abhören mutmaßlicher Täter sollen ausgeweitet werden, etwa 190 Beamte aus anderen Landesteilen wurden zudem zur Unterstützung in die Hauptstadt geschickt.

Schwedische Polizisten am Tatort
IMAGO/TT/Anders Wiklund
Als Verursacher der starken Explosionen im Zentrum Stockholms am 17. Jänner 2023 werden Gangs vermutet

Ermittlerin wirft Polizei „Totalversagen“ vor

Die Polizei scheint in der Angelegenheit die Kontrolle verloren zu haben: Seit 2015 ist die Aufklärungsquote bei tödlichen Attentaten abgesackt, 2022 führte lediglich jede vierte Tat zu einer Verurteilung. In der Folge würden Morde von den Gangs als risikolos eingeschätzt werden, sagte der Kriminologe Amir Rostami. Die Kriminellen würden immer brutaler, es handelt sich laut Kristersson um „Menschen mit einem extremen Gewaltpotenzial, die auf der Suche nach Rache oder Status die Sicherheit und Freiheit anderer Menschen bedrohen“.

„Wir tun alles, was wir können, um dafür zu sorgen, dass in Stockholm alles sicher und geschützt ist“, so Anders Thornberg, Chef der Polizeibeamten in Schweden, gegenüber dem Radiosender Sveriges Radio P4. Die Ermittlerin Caroline Asplund wirft der Polizei in der Bekämpfung der Banden jedoch „Totalversagen“ vor. Die Beamten forderten stets, dass andere – wie Sozialdienste, Schulen und Eltern – bei der Vorbeugung helfen müssten. Dabei fehle es der Behörde an Selbstkritik.

„Kurdischer Fuchs“ als Strippenzieher?

Als einer der Hintergründe für die Vorfälle am Wochenende wird ein Konflikt um den Drogenmarkt in der Stadt Sundsvall knapp 400 Kilometer weiter nördlich vermutet. Dem SVT und der Zeitung „Aftonbladet“ zufolge hat dort ein 24-Jähriger mit einem kriminellen Netzwerk das Sagen. Ein in der Türkei lebender 36-Jähriger – der in Schweden als „kurdischer Fuchs“ bekannt ist – wolle ihm die Position streitig machen, heißt es.

Mehrere Taten sollen sich demnach gegen Angehörige der beiden Hauptakteure gerichtet haben. Innerhalb der Polizei wird nach SVT-Informationen vermutet, dass es unter Kriminellen eine Art Liste mit potenziellen Angriffszielen und dem entsprechenden Preisgeld für das Ausführen von Aufträgen gegen diese Personen gibt. Dahinter soll nach Senderangaben das Netzwerk des „kurdischen Fuchses“ stecken.

„Die Gleichgültigkeit, die diese Netze an den Tag legen, und das Risiko, dass eine dritte Person zu Schaden kommt, nehmen zu, je schwerer die Gewaltverbrechen sind, die wir beobachten“, sagte Josef Wiklund, Leiter der örtlichen Polizei in Sundsvall, gegenüber „Aftonbladet“. „Andererseits halte ich es für wichtig, die Tatsache hervorzuheben, dass die Kriminalität in der Gesellschaft generell zurückgegangen ist.“ Man müsse weiterhin „proaktiv handeln und dafür sorgen, dass sich diese Netzwerke nicht durchsetzen“.

Hälfte der Verdächtigen unter 18

Eine Polizeisprecherin nannte die Situation „sehr angespannt“. „Das ist nicht die Norm und ist in dieser Spirale der Gewalt noch nie vorgekommen“, sagte sie. Ein Polizeiexperte für Bandengewalt, Gunnar Appelgren, sprach von einem sehr ernsten Konflikt. Es gehe um Töten oder Getötetwerden – wobei Opfer und Täter immer jünger werden.

Am Freitagabend wurden zwei Minderjährige bei einer Verfolgungsjagd verletzt. In dem Auto, mit dem sie unterwegs waren, fand die Polizei Waffen. Auch am Samstagnachmittag wurden drei junge Menschen festgenommen, nachdem im Südstockholmer Stadtteil Enskede auf einen Menschen geschossen worden war. Die Hälfte der Verdächtigen sei unter 18, sagte die ermittelnde Kommandantin Hanna Paradis kürzlich.

Bekämpfung der Bandengewalt als Wahlversprechen

Die konservative, von den Rechtspopulisten unterstützte Regierung unter Ministerpräsident Kristersson hat kürzlich angekündigt, als weitere Maßnahme die Einwanderungspolitik verschärfen zu wollen. Auch das soll die Bandenkriminalität treffen: Fachleuten zufolge rekrutieren sich Mitglieder zunehmend aus Einwandererfamilien.

Ulf Kristersson
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Kristersson kündigte kurz nach der Wahl im Herbst an, wieder „Ordnung machen“ zu wollen

Kristersson ist seit Mitte Oktober Ministerpräsident. Er trat damals die Nachfolge der Sozialdemokratin Magdalena Andersson an und regiert mit einer konservativ-liberalen Dreiparteienkoalition, die ohne die rechtspopulistischen Schwedendemokraten auf keine eigene Mehrheit kommt. Deshalb ist die Regierung eine Zusammenarbeit mit den Rechten eingegangen – ein Novum für das skandinavische EU-Land.

Sie arbeitet mit der Partei im Parlament eng zusammen, unter anderem beim Kampf gegen Kriminelle. Die Bekämpfung der Bandengewalt galt vor dem Antritt der neuen Regierung als zentrales Versprechen und war nach Einschätzung vieler Beobachterinnen und Beobachter wohl wahlentscheidend.