Militärfahrzeug in Dschenin
APA/AFP/Jaafar Ashtiyeh
Tote im Westjordanland

Angst vor Eskalation nach Militäreinsatz

Bei einer Razzia des israelischen Militärs in Dschenin im Westjordanland hat es am Donnerstag neun Tote und viele Verletzte gegeben. Israels Armee teilte mit, bei der Festnahme von Terrorverdächtigen beschossen worden zu sein. In politischen Kreisen in Israel wächst laut Medien die Angst vor einer Eskalation. Im Westjordanland wurde zum Generalstreik aufgerufen, die Palästinensische Autonomiebehörde kündigte die Zusammenarbeit auf.

Das palästinensische Gesundheitsministerium gab die Zahl der Getöteten Donnerstagmittag mit neun an. Sieben der Getöteten hätten militanten Gruppierungen angehört, zwei weitere – darunter eine ältere Frau – seien Zivilpersonen gewesen, berichtete Reuters unter Berufung auf palästinensische Behörden. Mindestens 20 Menschen seien verletzt worden, hieß es weiter. Es war einer der Militäreinsätze mit den meisten Toten der vergangenen Jahre im Westjordanland.

Die Razzia ereignete sich im Flüchtlingslager von Dschenin. Israelische Medien berichteten, eine Spezialeinheit habe einen Kühlwagen für Milchprodukte benutzt, um an den Einsatzort zu gelangen. Unterstützung hätten sie von weiteren Einheiten erhalten, die auf normalem Weg ins Lager gekommen seien.

Ein weiterer Palästinenser wurde später nach palästinensischen Angaben im zwischen Jerusalem und Ramallah gelegenen al-Ram erschossen. Der offiziellen palästinensischen Nachrichtenagentur WAFA zufolge wurde der Mann während Protesten gegen die Razzia in Dschenin getötet.

Armee: Bei Festnahme unter Beschuss geraten

Das israelische Militär teilte mit, die Einsatzkräfte seien bei der versuchten Festnahme mehrerer Mitglieder der militanten Palästinenserorganisation Islamischer Dschihad unter Beschuss geraten. Drei bewaffnete Verdächtige wurden laut Armee getroffen. Vier weitere seien festgenommen worden. Die Zelle wird den Angaben zufolge verdächtigt, einen Terroranschlag geplant zu haben. Berichte über weitere Tote würden geprüft, hieß es.

Militärfahrzeug in Dschenin
AP/Majdi Mohammed
Ein gepanzertes Fahrzeug der israelischen Armee in Dschenin

Die palästinensischen Extremistengruppen Hamas und Islamischer Dschihad sprachen von einem Kampf mit israelischen Armeeangehörigen. Ihre Mitglieder kämpften gegen israelische Soldaten, die in das Flüchtlingslager von Dschenin eingedrungen seien, hieß es. An den Eingängen zu den engen Gassen des Lagers bewarfen Jugendliche Fahrzeuge der israelischen Armee mit Steinen. Zudem waren Schüsse und gelegentlich Explosionen zu hören.

Laut israelischen Medien sind Einsätze wie jener in Dschenin während des Tages für die israelische Armee ungewöhnlich. Der Einsatzzeitpunkt deutete der Zeitung „Jediot Achronot“ zufolge auf erhöhte Dringlichkeit hin. „Ohne Zweifel kann die Zelle, die wir heute früh ausgeschaltet haben, als ‚tickende Bombe‘ bezeichnet werden“, sagte ein namentlich nicht genannter israelischer Offizier dem Blatt.

Palästinensische Ministerin mit Vorwürfen gegen Armee

In einer weiteren Erklärung teilte die palästinensische Gesundheitsministerin Mai al-Kaila mit, die israelische Armee habe ein Krankenhaus in Dschenin „gestürmt und absichtlich Tränengaskanister auf die Kinderabteilung des Krankenhauses abgefeuert“. Sie bezeichnete die Situation in dem Flüchtlingslager als „kritisch“ und sagte, israelische Streitkräfte hinderten Rettungswagen daran, die Verletzten zu erreichen.

Die Armee widersprach am Donnerstag gegenüber der Nachrichtenagentur AFP den Vorwürfen. „Niemand hat absichtlich Tränengas auf ein Krankenhaus geschossen“, sagte ein Sprecher. „Aber die Operation war nicht weit vom Krankenhaus entfernt, und es ist möglich, dass etwas Tränengas durch ein offenes Fenster hineingelangte.“ Der Chef des Krankenhauses in Dschenin, Wisam Bakr, sprach zwar von israelischen Schüssen nahe seiner Klinik – jedoch nicht davon, dass gezielt auf das Krankenhaus gefeuert worden wäre.

Tote bei Militäreinsatz in Dschenin

Bei einer Razzia des israelischen Militärs in Dschenin im Westjordanland hat es mehrere Tote und Verletzte gegeben.

Der palästinensische Ministerpräsident Mohammed Schtaje drückte den Familien der Opfer sein Beileid aus und rief die internationale Gemeinschaft auf, „dringend einzugreifen, um die palästinensische Bevölkerung zu schützen und das Blutvergießen an Kindern, Jugendlichen und Frauen zu beenden“.

Aufruf zu Generalstreik im Westjordanland

Israelische Medien berichteten unter Berufung auf politische Kreise in Jerusalem, man müsse sich nach dem Einsatz auf eine mögliche Eskalation mit militanten Palästinensergruppen einstellen. Laut Reuters verhandeln Abgesandte der UNO und arabischer Staaten derzeit mit israelischer und palästinensischer Seite, um weitere Gewalt zu verhindern.

Im Westjordanland wurde am Donnerstag zu einem Generalstreik aufgerufen. Laut der israelischen Tageszeitung „Haaretz“ (Onlineausgabe) bereitet sich die israelische Armee auf Raketenbeschuss durch militante Palästinensergruppen aus dem Gazastreifen vor.

Autonomiebehörde setzt Kooperation aus

Am Abend erklärte die Palästinensische Autonomiebehörde als Reaktion auf die Ereignisse am Donnerstag, die Zusammenarbeit mit Israel in Sicherheitsfragen aufgekündigt zu haben. Diesbezügliche Ankündigungen hatte die Autonomiebehörde schon bei früheren Gelegenheiten gemacht – sie wurden allerdings de facto nicht umgesetzt.

Die Zusammenarbeit zwischen palästinensischen und israelischen Sicherheitskräften geht auf Friedensverhandlungen in den 1990er Jahren zurück. Beide Seiten tauschen nachrichtendienstliche Informationen aus, um Terroranschläge zu verhindern oder größere Einsätze in den allein von der palästinensischen Autonomiebehörde kontrollierten Zonen zu koordinieren. Zudem soll verhindert werden, dass militante Gruppen die Oberhand in dem Gebiet erlangen.

Blinken-Treffen mit Netanjahu

US-Außenminister Antony Blinken reist kommende Woche nach Israel und ins Westjordanland. Er wird dabei nach Angaben seines Ministeriums vom Donnerstag unter anderen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu treffen. Blinken wird auch ein Gespräch mit Palästinenserpräsident Mahmud Abbas führen.

Der US-Außenminister werde bei seinen Treffen „die Dringlichkeit unterstreichen, dass die (Konflikt-)Parteien Schritte zur Deeskalation der Spannungen unternehmen, um den Kreislauf der Gewalt zu beenden, der zu viele unschuldige Leben gefordert hat“, sagte sein Sprecher Ned Price. Blinken wird am Sonntag zunächst nach Ägypten reisen. Das Land ist ein wichtiger Vermittler im Nahost-Konflikt zwischen Israel und Palästinensern. Der US-Außenminister wird am Montag und Dienstag Jerusalem und Ramallah besuchen.