Israels Premier Benjamin Netanyahu
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Israel

Die „Achillesferse“ der Rechtsregierung

Seit Antritt der neuen rechts-religiösen israelische Regierung von Premier Benjamin Netanjahu spitzt sich die Lage gleich doppelt zu. So droht der Nahost-Konflikt in eine neue Phase unkontrollierter Gewalt und Gegengewalt abzugleiten. Innenpolitisch spaltet der von Netanjahu vorangetriebene Umbau der Justiz das Land. Hier bekommt die rechte Koalition Widerstand von einer Seite, mit der sie nicht gerechnet hatte, nämlich der Wirtschaft – und hier insbesondere der wichtigen Hightech-Industrie.

Auf die Drohung und Ankündigung von Unternehmen abzuwandern reagiert Netanjahu ungewohnt nervös. Der 73-jährige Netanjahu, mittlerweile der längstdienende Regierungschef des Landes, will sich mit dieser Legislaturperiode den Eintrag in die Geschichtsbücher sichern, am liebsten mit einem Friedensabkommen mit Saudi-Arabien. Seine Koalition besteht aus Parteien, die wie er seit Jahren die Justiz als linksgerichtet hinstellen und gegen sie kampagnisieren.

Das machen sie nicht zuletzt deshalb, weil Netanjahu derzeit selbst wegen Korruption vor Gericht steht und einer seiner wichtigsten Partner, Arie Deri von der orthodoxen Schas-Partei, eben vom Höchstgericht für nicht ministrabel erklärt wurde, da er mehrfach rechtskräftig verurteilt ist, unter anderem wegen Steuerhinterziehung.

Proteste von Hightech-Beschäftigten in Tel Aviv
Reuters/Corinna Kern
Hightech-Angestellte protestierten zuletzt – wütend und ironisch: „Keine Freiheit, kein Hightech“ und „Auch ohne ChatGPT wissen wir, dass ihr irrt“

Viel mehr Macht für Exekutive

Zwei Teile der Umbaupläne sind besonders umstritten: Eine Änderung des Systems, wie Richter ernannt werden. Dieses soll stark politisiert werden und der Regierung ein viel stärkeres Mitspracherecht als bisher geben. Und vom Höchstgericht aufgehobene Gesetze sollen mit einfacher Mehrheit erneut beschlossen werden können.

Während die Regierung von einer stärkeren Ausgewogenheit der von ihnen als links bezeichneten Gerichte und einer Stärkung der Demokratie spricht, sehen Kritikerinnen und Kritiker den Rechtsstaat in ernster Gefahr. Von ehemaligen Höchstrichterinnen und -richtern bis zur aktuellen Präsidentin des Höchstgerichts über die Opposition bis hin zu vielen Fachleuten reicht dabei die Sorge um die Demokratie im Land.

Kritik von diesen – durchaus heterogenen – Teilen der Bevölkerung ist Netanjahu seit dem Dauerkonflikt rund um die Ermittlungen und spätere Anklage gegen ihn seit Jahren gewöhnt. Und er hat es mit seiner Beliebtheit und seinem taktisch-populistischen Geschick geschafft, rund die Hälfte der Bevölkerung auf sich einzuschwören und sich als Opfer einer linken Elite, die nach seinen Angaben die Justiz beherrscht, darzustellen.

Breite Front in Wirtschaft

Doch nun kommt Widerstand von für Netanjahu unerwarteter Seite, nämlich der Wirtschaft, insbesondere der Hightech-Industrie, auch international führend und ein Schwergewicht der Branche. Netanjahu verweist selbst gern auf seine ökonomische Kompetenz und sieht diese durch die Liberalisierungsinitiative zur Jahrtausendwende, die Ausgangspunkt für die weitgehend erfolgreiche Internationalisierung der Wirtschaft verbunden mit starkem Wachstum war, bestätigt.

Nach breiten Protesten, einem Appell zahlreicher israelischer Hightech-Größen und einem von den Firmen genehmigten stundenlangen Arbeitsausstand berief Netanjahu Ende Jänner eilends eine Pressekonferenz ein, bekräftigte die Reformpläne und versuchte gleichzeitig, die Welle zu brechen.

Unmittelbarer Anlass war ein offener Brief von 270 Ökonominnen und Ökonomen, die vor den Folgen für die israelische Wirtschaft warnten und ein Gespräch des Zentralbankchefs Amir Jaron mit Netanjahu. Darin berichtete Jaron von den internationalen Befürchtungen und Warnungen auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Unter anderem drohe Israel bei Umsetzung der Justizpläne eine Herabstufung des Kreditratings, so der Zentralbankchef laut israelischen Medien.

Chefs mehrere Banken warnten Netanjahu ebenfalls, einer sprach in der Vorwoche von leicht erhöhten Abhebungen. Der Chef der Tel Aviver Börse beruhigte hingegen – ausländische Investoren würden sich derzeit noch nicht anders verhalten. Reale Folgen würden sich aber wohl erst mit Verzögerung nach Beschluss der Justizreformen zeigen.

Netanjahu sieht „wirtschaftliche Revolution“

Netanjahu verwies in der Pressekonferenz laut der Nachrichtenwebsite Walla auf seine wirtschaftlichen Erfolge in der Vergangenheit, meinte, die erst seit wenigen Wochen im Amt befindliche Regierung habe bereits eine „wirtschaftliche Revolution“ umgesetzt. Es gab bisher allerdings keine nennenswerten Wirtschaftsmaßnahmen. Und er nannte die von ihm bereits bekannten Feindbilder: eine geeinte Linke und Medien, die seine Erfolge verschwiegen und erfundene Vorwürfe transportierten.

Die Justizreform werde den Markt stärken, nicht schwächen, behauptete Netanjahu sogar. Und er versprach eine Deregulierung. Die liberale, Netanjahu-kritische Tageszeitung „Haaretz“ meinte in einem Kommentar, die Pressekonferenz habe die Wirtschaft als die wahre „Achillesferse“ Netanjahus offengelegt.

Israelisches Höchstgericht
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Israels Höchstgericht bei einer Verhandlung, im Zentrum die Präsidentin Esther Hajut

Erste Firma zieht aus Israel ab

Als erstes Unternehmen kündigte das Fintech-Unternehmen Papaya Global am Donnerstag an, seine Investitionen aus Israel abzuziehen – und begründete das ausdrücklich mit der geplanten Justizreform. Die israelische Gründerin Einat Guez bezog sich in der Mitteilung direkt auf Netanyahu: Angesichts dessen Entschlossenheit, „Reformen durchzusetzen, die der Demokratie und Wirtschaft schaden werden, haben wir bei Papaya Global die finanzielle Entscheidung getroffen, alle Gelder aus Israel abzuziehen“, schrieb Guez auf Twitter.

Zur Begründung schrieb sie, angesichts der erwarteten Reformen gebe es keine Sicherheit mehr, „dass wir von Israel aus internationale finanzielle Aktivitäten ausführen können“. Es handle sich um einen „schmerzhaften, aber notwendigen finanziellen Schritt“.

Auch Tom Livne, Gründer von Verbit, das KI-gesteuerte Transkriptionssoftware entwickelt, kündigte an, Israel zu verlassen, und rief andere Hightech-Manager auf, es ihm nachzumachen.

Gefährliche Dynamik

Auch international gab es bereits Bedenken von politischer Seite, insbesondere aus den USA. Der US-Topverfassungsjurist Alan Dershowitz warnte laut eigenen Angaben gegenüber „Haaretz“, Netanjahu in einem persönlichen Gespräche vor den weitgehenden Justizreformen. Er habe auf die negativen Folgen für Israels internationales Ansehen verwiesen.

Hält der Druck an – oder steigt er noch weiter – werden Netanjahu und seine Verbündeten vor einer schwierigen Wahl stehen: Justizumbau oder Wirtschaftswachstum. Denn höhere Refinanzierungskosten, eine höhere Staatsschuldenquote und geringere Steuereinnahmen würden zu einem großen Teil vor allem die sozial Schwachen treffen – und damit zu einem nicht geringen Teil die Wählerschaft der Koalitionsparteien.

Laut einem aktuellen Bericht der Newssite Ynet von Wochenanfang überlegt die Koalition mittlerweile, die Reform in mehreren Etappen umzusetzen, um so den Gegnerinnen und Gegnern Wind aus den Segeln zu nehmen.