Szene aus dem Stück „Salome“ in der Wiener Staatsoper
Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
Wiener „Salome“

Heikler Tanz vor der Videokamera

Eleganz und Abgrund verspricht die Wiener Staatsoper zum Theater des Franzosen Cyril Teste. Seine neue „Salome“ für die Wiener Staatsoper wurde bei der Premiere zur Gruppenpsychoanalyse des untergehenden Habsburgerreichs. Der Hof des Herodes ist mit den letzten Schlafwandlern vor dem Anbruch einer neuen Zeit bevölkert – mitten darin eine Prinzessin Salome, die als Kind vor die Projektionen des Stiefvaters und der Videokameras tritt.

Man hat die Worte des Musikdirektors der Staatsoper, Philippe Jordan, noch im Gedächtnis, als er jüngst die Unverständnisse des modernen Regietheaters anprangerte, die für ihn zur Hürde des Erarbeitens großer Opernstücke würden. Im Fall der Umsetzung der berühmten „Salome“ von Richard Strauss aus dem Jahr 1905 durch das Regieteam um Teste müsste Jordan wohl frohlocken: Eigentlich wird hier für die Dauer eines eher kurzen Abends ein einziges Setting ohne große Eingriffe angerichtet.

Neue „Salome“ in der Staatsoper

Die Wiener Staatsoper erneuert schrittweise ihr Repertoire, weil viele Produktionen Jahrzehnte alt sind. Jetzt gibt es nach 50 Jahren etwa eine neue „Salome“. Die Oper von Richard Strauss wurde mit der schwedischen Sängerin Malin Byström in der Titelpartie neu inszeniert.

Eine Gesellschaft zelebriert ihr letztes großes Abendmahl. Und geht man nach dem Jugendstilluster, der über der Szenerie schwebt, könnte es das Wien vor dem Ersten Weltkrieg sein, also auch jenes Wien, das die Aufführung der „Salome“ unter der Führung von Gustav Mahler einst verbieten ließ. Und es ist natürlich das Wien der Psychoanalyse des Sigmund Freud. So durfte man hinreichend gespannt oder gewarnt sein und erinnerte sich vielleicht auch an einen „Parsifal“ im Haus auf dem Ring, der auf dem Steinhof angesiedelt war.

Über die eigenen Abgründe hinweg

Alles ist sehr österreichisch angerichtet vor einem trügerischen Mond, den man im Hintergrund des Diners erkennen darf: Eine Gesellschaft spielt sich über ihre Abgründe hinweg. Es riecht nach Erstem Weltkrieg ebenso wie schon vom aufkeimenden Faschismus, wenn man auf die Wachen neben der gespenstischen Tafel blickt. Mitten drinnen die „schöne Prinzessin“ Salome (Malin Byström), die mit ihrer Triebsteuerung und dem Wunsch, Johannes den Täufer küssen zu dürfen, so etwas wie die Selbstaufdeckung der Gesellschaft befeuern soll. Salome sei ohne Vorgeschichte – und in dieser liegen die Übergriffe ihres Stiefvaters – nicht darstellbar, entnimmt man dem Ansatz der Regie.

Szene aus dem Stück „Salome“ in der Wiener Staatsoper
Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
„Schlafwandler“ hatte der Historiker Christopher Clark die untergehende Gesellschaften vor dem Ersten Weltkrieg genannt. Hier kommt sie in Gesamtdarstellung und im Close-up zur vielleicht letzten Geltung.

Die Gründe für die Entrückung der Salome will die Inszenierung offen legen, ja vielleicht auch verständlich machen. Dabei ist ja mit dem nach ihr geifernden Stiefvater Herodes (Gerhard Siegel) und ihrer Mutter Herodias (Michaela Schuster) ohnedies eine Form von Familienaufstellung auf der Bühne, die bei Strauss so unter dem Strom von Spannungen steht, dass man auch ohne Verordnung für die Analysesitzung damit spielen könnte, wenn man nur wollte. Die Regie will etwas anderes und dann vielleicht auch zu viel: Es geht um die gesamte Gesellschaft, die Konstellation von Mutter, Tochter, Stiefvater und die Entwicklung der Figur der Salome selbst.

Schauen, sortieren, hören

Hier muss das Publikum gleich zu Beginn gut schauen, hören und sortieren, um die Charaktere im Gesamttableau zu finden und auch herauszuhören. Byström als Salome sucht rasch ihre Präsenz. Doch im Hintergrund lauert ein Handgriff aus der Trickkiste des Gegenwartstheaters. Die eingesetzten Videoprojektionen treiben ein Spiel der Selbstbespiegelung voran, das man rasch versteht und verstehen soll.

„Je est un autre“, hatte Rimbaud schon vor Freud gewusst, und diese Salome tritt in der Selbstaufstellung gleich in dreifacher Ausführung auf die Bühne – als singende Prinzessin, als Kind im weißen Seidenkleid und als Jugendliche.

Was sollte denn aus diesem Kind werden, das so träumt wie jedes andere Kind, aber in eine schreckliche Gesellschaft voller Schuld und Übergriffe hineingeboren ist? Den Künder einer neuen Zeit, Jochanaan als Vertreter des Logos (gesungen von Wolfgang Koch), kann diese Gesellschaft nicht erkennen. Fürchten ihn die einen wie Herodes, meint Salome, den Täufer und Künder eines anderen Anführers über die sinnliche Eroberung überwältigen zu können. Eigentlich könnte er auch ihr Erlöser sein, würde man den Therapiegedanken weiterspinnen.

Wie das Ganze ausgeht, ist in einer einprägsamen Ikonografie überliefert. Die Prinzessin tanzt entrückt, nachdem man ihr den Kopf des Propheten gebracht hat. Bei Strauss passiert die erste Entrückung schon früher, mit dem Tanz der Salome und einem Spiel um Macht, Gewalt und Verführung, das sich genau an den Stiefvater richtet.

Szene aus dem Stück „Salome“ in der Wiener Staatsoper
Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
Jochanaan, Salome eins und Salome zwei. Alles ist hier Psychoanalyse als Mehrgestalttherapie.

Tanz der Salome als Gratwanderung

Tritt zuerst die erwachsene Salome zum berühmten Tanz auf den Tisch des Banketts, wird sie in Folge des Stücks von ihrem kindlichen Ich abgelöst. Die kindliche Salome ist ebenso im Zentrum der Projektionen eines auf sie fixierten Stiefvaters, der von der Angst des Außenblicks getrieben ist und jede Form der Moral ad acta gelegt hat.

Das hier auf der Bühne agierende Kind und die herumstehende Gesellschaft darf man auch als Spiegelung einer Debatte der letzten Wochen sehen, wo möglicherweise wenig über die Opfer und noch weniger über die Maschinerie der Täter gesprochen wurde. Ob es bei allen im Publikum so angekommen ist, könnte Gegenstand einer Diskussion sein. Regie und Staatsoper haben sich zur künstlerischen Darstellung dieser Konfliktsituation entschieden. Verwiesen wird auf die sorgsame Erarbeitung unter Einbeziehung weisungsunabhängiger Expertinnen und Experten sowie der Eltern.

Das Gesetz ist der, der den Übergriff begeht

Die Wurzel des nächsten Übergriffs ist der in der Kindheit angelegte Missbrauch, so kann man diese „Salome“ lesen. Das Gesetz ist freilich der, der den Übergriff begeht. Er exekutiert am Ende die Tochter und verwischt damit, dass er den Wunsch der Salome nur durch das eigene Verlangen gegenüber der Stieftochter erst zugelassen hat. Die Exekution der Salome wird am Ende die Exekution der gesamten Gesellschaft – so die Warnung, die man aus diesem Stück mitnehmen kann.

Szene aus dem Stück „Salome“ in der Wiener Staatsoper
Wiener Staatsoper/Ashley Taylor
Malin Byström und die Maske des Jochanaan am Schluss. Sängerisch war der Abend überzeugend.

Im Finale ist der Mond blutrot – und die wehenden Vorhänge am Rand sind es auch. Der hereingebrachte Kopf des Jochanaan ist eine Maske, weniger die des Begehrens als die einer Gesellschaft, die sich noch einmal den Schein des Funktionierens geben will. Marlin Byström und Gerhard Siegel überzeugen sängerisch in dieser Produktion, die auch in der musikalischen Umsetzung erst spät zu sich kommt. Für die Gestalt des Jochanaan hat man hier keinen schlüssigen Platz gefunden.