EU-Gipfel in Kiew
IMAGO/ZUMA Press/Ukraine Presidency
EU-Ukraine-Gipfel in Kiew

Beitrittsperspektive als heikles Thema

Ein Marathon, kein Sprint sei der Beitritt zur Europäischen Union, hat EU-Kommissar Johannes Hahn (ÖVP) zur Perspektive der Ukraine gesagt. Am Freitag aber will Präsident Wolodymyr Selenskyj auf dem Gipfel mit Kommissionschefin Ursula von der Leyen in Kiew mehr als Vertröstungen. Die Ukraine verdiene Verhandlungen noch heuer, sagte er.

Von der Leyen ist bereits am Donnerstag in die Ukraine gereist, am Freitag findet zunächst eine Arbeitssitzung mit der Kommissionschefin, Ratspräsident Charles Michel und Selenksyj statt. Danach soll es eine Pressekonferenz geben. Uhrzeit und Ort sind geheim, aus Sicherheitsgründen. Dass das Treffen mitten im Krieg in Kiew nicht ungefährlich ist, zeigt der Luftalarm in der ukrainischen Hauptstadt und im ganzen Land am Freitag.

Angaben aus Kiew zufolge wurde der Alarm wegen des Einsatzes russischer Kampfflugzeuge im Luftraum über Belarus ausgelöst. Von dort aus werden regelmäßig Raketen in Richtung Ukraine abgefeuert.

Auf dem Gipfel soll es nicht nur um finanzielle und anderweitige Hilfen nach dem völkerrechtswidrigen Überfall Russlands gehen. Die Staats- und Regierungschefs der EU werden der Ukraine mehr finanzielle, militärische und politische Hilfe versprechen. Die Gespräche sollten sich auf die Verbesserung des Zugangs ukrainischer Produkte zum EU-Markt, die Unterstützung der Ukraine bei der Deckung ihres Energiebedarfs nach wochenlangen russischen Luftangriffen, neue Sanktionen gegen Moskau und die Verfolgung russischer Führer für den Krieg konzentrieren.

ORF-Analyse: Gespräche zwischen Ukraine und EU

Der ORF-Außenpolitikexperte Peter Fritz analysiert die Ziele des EU-Ukraine-Gipfels in Kiew. Fritz gibt auch seine Einschätzung, ob in diesem Jahr ein Ende des Krieges in Sicht ist.

Reformen eingemahnt

Thema ist aber auch der Wunsch der Ukraine nach baldiger Aufnahme in die Europäische Union. Beitrittsverhandlungen noch in diesem Jahr habe die Ukraine „verdient“, so Selenskyj am Donnerstag. Die Verantwortlichen der Ukraine und der EU sind sich laut Selenskyj einig: „Nur zusammen können eine starke Ukraine und eine starke Europäische Union das Leben, das wir schätzen, schützen“, sagte er, „und dass unsere weitere Integration unserer Bevölkerung Energie und Motivation geben muss, um gegen alle Hindernisse und Bedrohungen zu kämpfen.“

Hilfe auf dem Weg in die EU werde es geben, so Michel. „Wir werden in unserer Entschlossenheit nicht nachlassen. Wir werden Sie auf Ihrem Weg in die EU bei jedem Schritt unterstützen“, schrieb er am Freitag auf Twitter. Details jedoch verriet Michel nicht.

Die Ukraine ist seit Juni 2022 offiziell Beitrittskandidat. Nicht nur die Tatsache, dass andere Länder schon geraume Zeit auf einen Beitritt warten, spricht gegen einen Schnelldurchlauf für die Ukraine. Auch der Krieg an sich wird die Gespräche verzögern. Die 27 EU-Staaten haben sich bereits darauf verständigt, dass zuvor Reformversprechen eingelöst werden müssen. Dabei geht es unter anderem um das Auswahlverfahren von Verfassungsrichtern und die Bekämpfung von Korruption – insbesondere auf hoher Ebene. Zahlreiche Razzien in der Ukraine in den vergangenen Tagen sprechen dafür, dass die ukrainische Regierung die Botschaft der EU verstanden hat.

Große Delegation aus Brüssel

Neben von der Leyen und dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell sind 15 EU-Kommissarinnen und -Kommissare ebenfalls in Kiew, unter anderen die Vizepräsidentinnen und -präsidenten Margrethe Vestager, Valdis Dombrovskis, Vera Jourova und Margaritis Schinas. Für Notfälle in Brüssel ist unter anderen Vizepräsident Frans Timmermans geblieben.

EU-Gipfel in Kiew
Reuters/Ukrainian Presidential Press Service
Von der Leyen und Selenskyj am Donnerstag in Kiew, flankiert von Delegationen

Weitere Unterstützung zugesagt

Von der Leyen hatte schon zum Auftakt eines zweitägigen Besuchs in Kiew am Donnerstag weitere umfangreiche Unterstützung im Kampf gegen Russland zugesagt. „Unsere heutige Anwesenheit in Kiew ist ein sehr deutliches Signal: Die gesamte Europäische Union ist langfristig an der Seite der Ukraine“, sagte die deutsche Politikerin an der Seite von Staatschef Selenskyj. Die Ukraine sei zum Mittelpunkt Europas geworden. „Zum Ort, an dem unsere Werte hochgehalten werden, wo unsere Freiheit verteidigt wird und wo die Zukunft Europas geschrieben wird.“

Sie kündigte weitere finanzielle, militärische und humanitäre Hilfen an. So sollen in diesem Jahr weitere 450 Millionen Euro bereitgestellt werden, um zum Beispiel den schnellen Wiederaufbau der Infrastruktur und Reformprojekte zu unterstützen. Zudem wird die EU weitere 2.400 Stromgeneratoren zur Verfügung stellen, insgesamt also mehr als 5.000. Bis zum Jahrestag des Kriegsbeginns am 24. Februar soll ein neues Paket mit Russland-Sanktionen beschlossen werden – das zehnte.

Milliarden für Wiederaufbau nötig

Die Ukraine forderte bei der EU für den angelaufenen Wiederaufbau der durch Russlands Krieg zerstörten Infrastruktur konkrete Mittel. „In diesem Jahr beträgt der Bedarf 17 Milliarden US-Dollar (rund 15,6 Milliarden Euro, Anm.)“, sagte Regierungschef Denys Schmyhal bei einem Treffen mit dem Kommissionsvize Dombrovskis.

Dafür sollten vor allem die im Zuge der Sanktionen gegen Moskau eingefrorenen russischen Gelder verwendet werden. Gleichzeitig dankte Schmyhal für die Finanzzusagen der EU von 18 Milliarden Euro, von denen bereits drei Milliarden in der Ukraine eingetroffen seien. „Wichtig ist, dass diese Finanzmittel prognostizierbar sind und regelmäßig eintreffen“, sagte der 47-Jährige.

Ausbildung für ukrainische Soldaten

Der EU-Außenbeauftragte Borrell kündigte darüber hinaus offiziell die Ausweitung der europäischen Ausbildungsmission für ukrainische Streitkräfte an. Diese soll zusätzliche 15.000 ukrainische Soldaten trainieren und die Gesamtzahl damit auf 30.000 erhöhen. Borrell zufolge soll die EU-Mission auch die Besatzung von Kampfpanzern ausbilden.

Das soll dafür sorgen, dass die Ukrainer die Leopard-2-Panzer effektiv nutzen können, die Länder wie Deutschland zur Verfügung stellen wollen. Zudem will die EU 25 Millionen Euro für die Minenräumung in zurückeroberten Gebieten bereitstellen. Bei der Minenräumung kann sich Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) auch eine Beteiligung des Bundesheers nach Ende des Krieges vorstellen.

Lawrow ortet zerstörerische Absichten

Der russische Außenminister Sergej Lawrow warf indes von der Leyen zerstörerische Absichten vor. Die Kommissionschefin wolle, dass sich Russlands Wirtschaft „auf viele Jahrzehnte hin“ nicht werde erholen können, sagte der Außenminister im russischen Staatsfernsehen. „Ist das nicht Rassismus, nicht Nationalsozialismus – nicht ein Versuch, ‚die russische Frage‘ zu lösen?“, fragte Lawrow mit Verweis auf den Zweiten Weltkrieg. Am Donnerstag beging Russland den 80. Jahrestag des Sieges der Sowjetarmee über die Truppen Nazi-Deutschlands in der Schlacht von Stalingrad.

Putin wettert gegen Westen

Russlands Präsident Wladimir Putin warf bei dieser Gelegenheit Deutschland vor, sich nun in einen Krieg mit Russland hineinziehen zu lassen. „Es ist unfassbar, aber eine Tatsache: Wir werden erneut mit dem deutschen Panzer Leopard bedroht“, sagte Putin bei einem Festakt in Wolgograd (Stalingrad). Wie im Zweiten Weltkrieg werde wieder auf dem Boden der Ukraine mit deutschen Waffen gegen Russland gekämpft, sagte der 70-Jährige. Anders als von Putin dargestellt gab es damals keine Leopard-Panzer.

Wie damals gegen die deutschen Truppen werde sich Russland aber auch diesmal wehren, meinte Putin mit Blick auf den Krieg gegen die Ukraine, den er vor fast einem Jahr selbst begonnen hatte: „Wir haben etwas, womit wir antworten. Und mit der Anwendung von Panzertechnik ist die Sache nicht erledigt. Das sollte jeder verstehen“, sagte er.

Er warf dem „kollektiven Westen“ eine antirussische Politik wie unter Nazi-Diktator Adolf Hitler vor. „Jetzt sehen wir leider die Ideologie des Nazismus in einem modernen Antlitz, in seiner modernen Ausprägung schafft er erneut eine Bedrohung für die Sicherheit.“ Kritiker werfen Putin immer wieder vor, die für viele Russen heiligen Gedenktage zur Erinnerung an den Sieg der Sowjetunion gegen Hitler-Deutschland im Zweiten Weltkrieg für seine Propaganda um den Überfall auf die Ukraine zu missbrauchen.