EU-Fahnen vor dem Berlaymont-Gebäude in Brüssel (Belgien)
IMAGO/NurPhoto/Beata Zawrzel
EU-Sondergipfel

Migration als Zankapfel

Donnerstag und Freitag findet in Brüssel ein Sondergipfel der 27 EU-Staats- und -Regierungschefs statt. Bei dem Gipfel wird das Thema Migration weit oben auf der Agenda stehen. Österreich, das die Sondertagung unter anderen erzwungen hatte, will Taten sehen – und droht. Für Verärgerung hatten in Brüssel im Vorfeld zudem Spekulationen über den Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj gesorgt.

Der Ukraine-Krieg sowie Russland-Sanktionen stehen bei dem Gipfel ohnehin auf der Tagesordnung, Streitthema ist mit der Migrationspolitik aber ein anderes. „Leere Worthülsen werden nicht ausreichen“, sagte Bundeskanzler Karl Nehammer der „Welt“ (Mittwoch-Ausgabe). Wenn konkrete Schritte ausblieben, werde Österreich die Abschlusserklärung des Gipfels nicht mittragen, sagte er. SPÖ und NEOS werfen ihm deshalb vor, jederlei Lösung zu verhindern. Die FPÖ bezeichnete Nehammer als „Meister der leeren Worthülsen“.

Im Vorfeld der Sondertagung hatte Bundeskanzler Nehammer gemeinsam mit sieben weiteren EU-Regierungschefs einen Brief unterzeichnet, in dem rasche Beschlüsse gefordert werden. Konkret sprachen sich Österreich, Dänemark, Lettland, Estland, Litauen, Malta, Griechenland und die Slowakei für mehr EU-finanzierte Maßnahmen zum Außengrenzschutz, raschere Abschiebungen sowie neue Rückführungsabkommen mit Drittstaaten aus.

Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP)
APA/Georg Hochmuth
Nehammer drohte im Vorfeld mit Blockade der EU-Gipfelerklärung

Fachleute äußern Zweifel an Forderungskatalog

Die EU-Kommission solle einen umfassenden Ansatz für alle wichtigen Migrationsrouten vorlegen, hieß es darin. Um Rückführungen von Menschen ohne Bleiberecht in sichere Herkunfts- und Transitländer sicherzustellen, müsse die EU über Visaverschärfungen sowie Handels- und Entwicklungspolitik Druck ausüben, wurde auch gefordert.

Die EU versucht seit Jahren erfolglos, die Rückführungsquote zu steigern – es scheitert an der Kooperation mit Drittstaaten. 2019 lag die Quote ausreisepflichtiger Menschen, die die EU tatsächlich verließen, bei 29 Prozent. 2021 waren es – vermutlich auch im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie – nur 21 Prozent. Ob es zu einem breiten Konsens kommt, ist fraglich.

Migrationsforscher wie Gerald Knaus und Margaret Monyani können den Plänen zu Visaverschärfungen (die Option ist bereits im Artikel 25a im Visakodex geregelt) dem „Standard“ gegenüber wenig abgewinnen – Drohungen seien nicht sinnvoll, sagte Monyani. Ohnehin mangle es innerhalb der EU in der Frage an Einigkeit, so Knaus. Ähnlich argumentiert der Migrationsforscher Florian Trauner gegenüber dem ORF: Die EU-Staaten würden bei den jeweiligen Herkunftsländern teils divergierende Partikulärinteressen verfolgen. Angewandt wurden Visaverschärfungen erst einmal – 2021 im Falle Gambias.

Doppelter Grenzzaun an der serbisch-ungarischen Grenze
Reuters/Laszlo Balogh
Für Debatten sorgten im Vorfeld Rufe nach EU-Mitteln für Grenzzäune

Kritik an Nehammers Grenzzaun-Vorstoß

An Einigkeit mangelt es auch in Bezug auf die österreichische Forderung nach EU-Mitteln für Grenzzäune: Die EU-Kommission und etwa Frankreich und Deutschland lehnen Zäune ab. Andere Mitgliedsländer – etwa Dänemark und Griechenland – sprachen sich hingegen für den Vorstoß aus. Die Forderung ist umstritten: Zäune würden Migrationsströme zwar dort, wo die Zäune errichtet werden, verringern, Menschen aber nicht davon abhalten, zu fliehen, erklärt Trauner gegenüber ORF.at.

„Man kann sehen, dass es einen Verdrängungseffekt zur Seebootüberfahrt gibt, dass mehr Menschen ihr Leben riskieren und es mehr Unfälle auf See gibt, wenn Zäune errichtet werden“, so der Experte. Abschreckungsmaßnahmen und Grenzzäune stünden für „ein System struktureller Gewalt“, heißt es in einem Statement von Ärzte ohne Grenzen. „Diese Gewalt ist nicht im Einklang mit bestehenden Werten und Rechtssystemen, weder den Menschenrechten, den EU-Grundrechten noch dem internationalen Völkerrecht.“

Asyl- und Migrationspakt hängt in der Luft

Österreich zählte im Dezember zu jenen Mitgliedsstaaten, die die Sondertagung überhaupt erst gefordert hatten. Die Regierung hatte mit einem politisch motivierten Veto gegen den Schengen-Beitritt von Rumänien und Bulgarien für einen Eklat gesorgt. Hochgekocht war das Thema zuletzt auch, weil die Zahl der Migrantinnen und Migranten in Richtung Europas wieder stark zugenommen hatten.

Zur Erinnerung: Eine Einigung über einen neuen Asyl- und Migrationspakt gibt es etwa nach wie vor nicht. Neun Gesetzesvorschläge liegen seit 2020 auf dem Tisch, davon umgesetzt wurde bisher nur einer: die EU-Asylbehörde EUAA. Die schwedische Ratspräsidentschaft strebt in der Frage aber Fortschritte an. Eine Einigung soll noch vor den Europawahlen 2024 erzielt werden, also unter der belgischen EU-Ratspräsidentschaft. Trauner zufolge glaubt in Verhandlerkreisen aber niemand, dass es bis dahin tatsächlich zu einem „großen Wurf“ kommt.

Der britische Premierminister Rishi Sunak und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vor Downing Street Nr. 10 in London
AP/Alberto Pezzali
Selenskyj zu Besuch beim britischen Premier Rishi Sunak

Wirbel um Spekulationen über Selenskyj-Besuch

Das unter anderem von Österreich getrommelte Migrationsthema wurde im Vorfeld von Gerüchten, wonach Selenskyj nach Brüssel reisen wird, beinahe an den Rand gedrängt. Der geplante Besuch sei von Mitarbeitern von Parlamentspräsidentin Roberta Metsola geleakt worden, schrieb „Politico“. Ein Fauxpas sei das, würde die Sicherheit Selenskyjs damit doch gefährdet, meinen Kritikerinnen und Kritiker.

Am Mittwoch war der ukrainische Präsident bereits in Großbritannien und Frankreich zu Gast. Auslandsreisen des ukrainischen Präsidenten waren seit Kriegsbeginn eine absolute Ausnahme. Ende 2022 war er einzig nach Washington gereist.

Neue Russland-Sanktionen?

Erst vergangene Woche waren EU-Ratschef Charles Michel, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sowie 15 weitere Kommissionsmitglieder für einen EU-Ukraine-Gipfel nach Kiew gereist. Der Eifer des ukrainischen Präsidenten hinsichtlich einer raschen EU-Mitgliedschaft wurde seitens der EU aber gedämpft. Es gebe noch viel zu tun.

Die Beitrittsperspektiven der Ukraine dürften auch am Donnerstag aufs Tapet gebracht werden – genauso wie neue Russland-Sanktionen. „Unser Ziel ist es, dass das zehnte Sanktionspaket bis zum 24. Februar – genau ein Jahr nach Kriegsbeginn – steht“, bekräftigte von der Leyen etwa. Auch der deutsche Kanzler Olaf Scholz bekräftigte das Vorhaben.

Debatte über EU-Subventionen programmiert

Nicht zuletzt soll es bei dem Gipfel um den „Green Deal“-Industrieplan, den die Kommission zuletzt vorgestellt hatte, gehen. Die EU fürchtet angesichts milliardenschwerer Staatshilfen in den USA und China um die heimische Wirtschaft. Der neue EU-Plan soll es nun ermöglichen, wettbewerbsfähig zu bleiben und klimafreundliche Technologien in der EU zu fördern. In den Debatten dürfte es besonders darum gehen, wie kleine EU-Staaten im Wettbewerb mit Ländern wie Deutschland und Frankreich nicht benachteiligt werden.

Konkret kündigte von der Leyen im Vorfeld des Gipfels eine Lockerung der EU-Beihilfevorschriften, eine raschere Genehmigung grüner Projekte, Maßnahmen zur Förderung von Qualifikationen und zum Abschluss von Handelsdeals sowie eine Umwidmung bestehender EU-Fonds an. Kurzfristig könnten die EU-Mitgliedsstaaten beispielsweise 225 Mrd. Euro aus dem 800 Mrd. Euro schweren Post-Covid-Konjunkturfonds nutzen.

Die Kommission schlägt zudem vor, die Regeln für staatliche Beihilfen für Investitionen in erneuerbare Energien und die Dekarbonisierung der Industrie vorübergehend bis Ende 2025 zu lockern – wobei sie einräumt, dass nicht alle EU-Länder in der Lage sein werden, Subventionen in demselben Umfang wie Frankreich oder Deutschland anzubieten.

Rasches Gipfelende steht im Raum

Scholz warnte die EU in dem Zusammenhang vor einem „ungehemmten Subventionswettlauf“. Nach einem Treffen mit Scholz hatte die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni zuletzt auf faire Wettbewerbsbedingungen gepocht. Berlin lehnt die von Meloni geforderte völlige Flexibilisierung der verschiedenen EU-Fördertöpfe aber ab.

In Brüsseler Kreisen wurde im Vorfeld der Sondertagung vermutet, dass der Gipfel schon am Donnerstag enden könnte. Mit einem großen Wurf wurde nicht gerechnet. Bedeutende Beschlüsse werden nämlich erst bei dem nächsten EU-Gipfel am 23. und 24. März erwartet.