Kinder in Flüchtlingscamp
APA/AFP/Bakr Alkasem

Bebenkatastrophe trifft Syrien doppelt hart

Das Erdbeben in der Nacht auf Montag hat das türkisch-syrische Grenzgebiet schwer getroffen. Insbesondere in Syrien ist die Lage nach zwölf Jahren Bürgerkrieg dramatisch. In der Grenzregion wurden Millionen Menschen durch den Krieg vertrieben, sie leben in Flüchtlingslagern. Die politische Situation ist instabil, die medizinische Grundversorgung fehlt, der Winter macht die Hilfe für die Erdbebenopfer zum Wettlauf gegen die Zeit.

In den von dem Erdbeben der Stärke 7,8 stark betroffenen nordwestlichen Provinzen Syriens wie Aleppo, Latakia, Hama, Idlib und Tartus wurden laut Zahlen der UNO durch den Krieg fast drei Millionen Menschen vertrieben, 1,8 Millionen leben in Notunterkünften. Durch die Kämpfe seit 2011 waren Gebäude so stark beschädigt, dass sie nach kurzer Zeit einstürzten. Auch Unterkünfte in den Flüchtlingslagern wurden zerstört.

Laut dem in den nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten seit knapp zehn Jahren aktiven syrischen Zivilschutz (Weißhelme) wurden in der Region Hunderte Familien unter den Trümmern ihrer Häuser verschüttet.

Wettlauf gegen Zeit und Winter

Die Zeit, sie zu retten, werde knapp, sagte der Leiter der Freiwilligenorganisation im von Rebellen gehaltenen Nordwesten des Landes, Raed al-Saleh, der Nachrichtenagentur Reuters. Für die Rettungseinsätze werde dringend internationale Hilfe benötigt. Die trifft inzwischen ein oder ist unterwegs, dennoch wird die Lage mit jedem Tag kritischer.

Der türkische Wetterdienst sagte für die Grenzregion in den südlichen bzw. südöstlichen Provinzen Kahramanmaras, Mardin, Malatya und Hatay Regen, Schnee, Temperaturen um oder unter dem Gefrierpunkt und starken Wind voraus. Ähnliche Wetterverhältnisse herrschen im syrischen Erdbebengebiet nur wenige Kilometer hinter der Grenze.

Flüchtlingslager in Syrien
APA/AFP/Omar Haj Kadour
Im Katastrophengebiet herrscht Winter mit Temperaturen annähernd wie in Mitteleuropa

Bürgerkrieg verschärft die Lage

Hilfslieferungen der UNO von der Türkei aus waren am Dienstag unterbrochen. Wegen beschädigter Straßenverbindungen über die Grenze und anderer logistischer Probleme seien diese aktuell nicht möglich, sagte die Sprecherin des Büros der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA), Madevi Sun-Suona. „Wir können noch nicht sagen, wann es weitergeht.“

El-Gawhary (ORF) über Lage in Syrien

Der ORF-Korrespondent Karim el-Gawhary spricht unter anderem über die Lage in Syrien nach dem verheerenden Erdbeben. Außerdem berichtet er, ob man das Ausmaß der Schäden schon abschätzen kann.

Das syrische Rote Kreuz kündigte an, auch in die von der Opposition gehaltenen Gebiete Hilfsgüter zu liefern. Das könne durch UNO-Organisationen vermittelt werden, sagte der Leiter des syrischen Roten Kreuzes bei einer Pressekonferenz. Hilfe solle in allen Gebieten Syriens geleistet werden.

Hilferuf aus Damaskus

Auch die syrische Regierung rief die internationale Staatengemeinschaft um Hilfe an. Das Außenministerium in Damaskus richtete seinen Appell an die UNO-Mitgliedsstaaten und internationale Hilfsorganisationen, um die Bemühungen „zur Bewältigung dieser menschlichen Katastrophe“ zu unterstützen, wie die Staatsagentur SANA am Montag berichtet hatte. Der Norden Syriens wird von der Regierung in Damaskus, kurdischen und weiteren Milizen kontrolliert.

Grafik zu den Epizentren in der Türkei
Grafik: APA/ORF; Quelle: USGS

Von Regierung oder Rebellen kontrolliert

Die Region um die frühere Wirtschaftsmetropole Aleppo sei besonders stark von der Katastrophe betroffen, berichtete die BBC am Dienstag. Schon zuvor sei die Lage kritisch gewesen, mit zerstörter Infrastruktur, tiefen Temperaturen, zuletzt dem Auftreten von Cholera.

Gegenüber Ö1 beschrieb Nahost-Korrespondent Karim el-Gawhary für den ORF die Folgen des Erdbebens als schwer abzuschätzen. Aleppo werde von der syrischen Regierung kontrolliert, die Region Idlib von Rebellen. Dort fehle es an schwerem Bergungsgerät, die Zahl der Opfer der Katastrophe werde wahrscheinlich weiter steigen.

„Desaster, die nicht in eines, sondern 100 Leben passen“

In der Region lebten fast drei Millionen Binnenflüchtlinge, die in Rebellengebiete geflohen waren, diese Menschen hätten Vertreibung und ständig Luftangriffe erlebt, das seien „eigentlich Desaster, die nicht in eines, sondern in 100 Leben passen“, sagte der ORF-Korrespondent am Dienstag im Ö1-Morgenjournal.

Man frage sich, wie diese Menschen das überhaupt noch aushielten. Für die Stadt Aleppo müsse die Hilfe aus Damaskus kommen, viele Länder weigerten sich, mit der Regierung von Präsident Baschar al-Assad zusammenzuarbeiten.

Misstrauen auf zwei Seiten

Dass Hilfe aus Damaskus – trotz entsprechender Versicherungen – auch in den Rebellengebieten ankomme, sei „eher unwahrscheinlich“. Diese müsse über die türkische Grenze kommen, da das Misstrauen zwischen den Konfliktparteien einfach zu groß sei. Und das syrische Regime sei sich „zunächst selbst der Nächste“.

Zerstörung nach Erdbeben in Aleppo, Syrien
Reuters/Firas Makdesi
Es fehlt an Bergegerät, wo es da ist, erschwert die Zerrissenheit des Landes die Rettungsbemühungen

Die Hilfe von außen sei wegen der schweren Schäden an der Infrastruktur schwer zu organisieren. Darüber, wie viele Gebäude zerstört wurden, gebe es praktisch keine Informationen. Krankenhäuser in der Region seien hoffnungslos überfordert, bei der Aufnahme von Verletzten werde darüber entschieden, „wer überhaupt noch eine Überlebenschance hat, die anderen bleiben draußen“.

IS-Kämpfer aus Gefängnis geflohen

Nach dem Beben flohen bei einer Gefängnismeuterei am Montag an die 20 Kämpfer der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) aus einer Militärhaftanstalt in Rajo nahe der Grenze zur Türkei. Sie hatten zuvor Teile des Gefängnisses unter ihre Gewalt gebracht, hieß es am Dienstag. Dort sollen an die 2.000 Häftlinge untergebracht sein, davon 1.300 mutmaßliche Angehörige des IS.

Das Erdbeben der Stärke 7,8 hatte das türkisch-syrische Grenzgebiet Montagfrüh erschüttert. In den Stunden danach wurden in der Region mehr als 50 Nachbeben registriert. Eines von ihnen hatte die Stärke 7,5. In der Türkei stürzten laut Staatschef Recep Tayyip Erdogan fast 3.000 Gebäude in insgesamt sieben Provinzen ein, darunter die staatlichen Krankenhäuser in Iskenderun und Adiyaman. Aus Syrien liegen keine vergleichbaren Zahlen vor.