„Viele Berichte deuten darauf hin, dass die Besatzer im Februar etwas Symbolisches tun wollen“, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Wochenende. Insbesondere im Osten des Landes stehe die ukrainische Armee verstärkt unter Druck, „in der Region Donezk finden heftige Kämpfe statt“, so der Staatschef. Auch die Lagen in den Städten Bachmut, Wuhledar, Lyman und in anderen Regionen würden immer schwieriger.
Diese Ansicht bestätigte Militärexperte Reisner. Denn nach einer erfolgreichen ukrainischen Offensive bei Charkiw und Cherson im Herbst sei es der russischen Seite gelungen, „sich im Winter entlang einer verkürzten Frontlinie zu konsolidieren und der Ukraine wieder einen Abnützungs- und Stellungskrieg aufzuzwingen“, wie der Oberst des österreichischen Bundesheers gegenüber ORF.at analysiert. In dieser Phase würden allen voran die verfügbaren Ressourcen entscheidend sein. Das ukrainische Militär müsse in die Offensive, ansonsten ist es einer „stetigen Abnützung“ unterworfen.

Offensive in wenigen Tagen?
Am Mittwoch berichtete der Gouverneur der größtenteils von Russen besetzten Region Luhansk, Serhij Hajdaj, dass mehr Reserven in unsere Richtung verlegt werden. Außerdem würden sie Munition bringen, „die anders eingesetzt wird als früher – es wird nicht mehr rund um die Uhr geschossen. Sie fangen langsam an zu sparen und bereiten sich auf eine Großoffensive vor“, sagte Hajdaj. Ein Angriff bzw. Vorstoß sei binnen weniger Tage möglich.
Russland werde versuchen, rund um den ersten Jahrestag des Krieges am 24. Februar Vorzeigeergebnisse parat zu haben, sagte auch der Leiter des ukrainischen Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats, Olexij Danilow, in einem am Dienstag in Kiew geführten Reuters-Interview. Man rechne mit einer Offensive in den Regionen Charkiw im Nordosten und Saporischschja im Süden. „Sie müssen etwas zum Vorzeigen haben für ihre Leute, und sie haben das große Verlangen, bis zu diesem Datum etwas aus ihrer Sicht Großes zu tun“, meinte Danilow.
Das in Washington ansässige Institut für Kriegsstudien zitierte am Dienstag ukrainische Beamte, die eine Offensive ab Mitte Februar erwarten. Ein nicht namentlich erwähnter Berater der ukrainischen Armee erklärte am Montag gegenüber der „Financial Times“, dass Russland beabsichtige, in den „nächsten zehn Tagen“ eine Offensive zu starten – noch bevor westliche Militärhilfen eintreffen. Moskau hatte den Westen zuletzt wegen anstehender Waffenlieferungen vor einer „unvorhersehbaren“ Eskalation gewarnt.
Zulauf an Front „klar“ erkennbar
Laut Reisner sei an der Front ein Zulauf russischer Rüstungsgüter und Reservisten „klar“ erkennbar. „Im Moment kann man davon ausgehen, dass Russland etwa 400.000 Soldaten im Einsatz hat“, so der Oberst. Das seien doppelt so viele wie im Februar vergangenen Jahres. Für einen Abnützungskrieg, wie er derzeit in der Ostukraine zum Großteil stattfindet, müsse Russland nicht zwingend in eine neue Offensive gehen. „Sollten sich für die russische Seite aber günstige Entwicklungen an der Front ergeben, wird sie diese sicherlich nützen.“
Deutlich sei jedenfalls, dass die russischen Streitkräfte im Osten des Landes „laufend Druck“ auf die ukrainischen Stellungen ausüben. „Im Raum Kremina, Siwersk, Bachmut, Marinka und Ugledar ist es die Absicht, wichtige Stützpunkte der Ukraine in der Tiefe zu umfassen und einzuschließen“, sagt Reisner. Diese Maßnahmen hätten aktuell vor allem einen regionalen Charakter und entsprächen der Absicht, die Oblaste Donezk und Luhansk zur Gänze in Besitz zu nehmen.

London: Kein Fortkommen Russlands in der Ukraine
Russland scheint sich derzeit allerdings auch nicht vom Fleck zu bewegen. Das geht jedenfalls aus einer Einschätzung des britischen Verteidigungsministeriums hervor. Den Streitkräften sei es lediglich gelungen, „mehrere hundert Meter“ pro Woche zu erobern, hieß es am Dienstag aus London. „Das liegt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit daran, dass Russland nun die für erfolgreiche Offensiven erforderliche Munition und die Manövriereinheiten fehlen.“
London vermutet, dass Kommandeure aufgrund von politischem Druck aus Moskau unrealistische Ziele verfolgen, die sie mit den vorhandenen, unterbesetzten und unerfahrenen Einheiten aber nicht erreichen könnten. Die russische Führung werde weiterhin Fortschritte fordern. „Es bleibt unwahrscheinlich, dass Russland in den kommenden Wochen die Kräfte aufbauen kann, die erforderlich sind, um den Ausgang des Krieges maßgeblich zu beeinflussen“, hieß es in London.