Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan besucht die vom Erdbeben betroffene Ortschaft Kahramanmaras
Reuters/Presidential Press Office
Wahlen im Mai

Erdogan nach Beben unter Druck

Das verheerende Erdbeben in der türkisch-syrischen Grenzregion wird für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zunehmend zu einer innenpolitischen Herausforderung – vor allem in Hinblick auf die Wahlen im Mai. Einmal mehr steht die türkische Baupolitik in der Kritik, die Opposition wirft Erdogan Versagen vor. Umfragen zufolge kann er sich seines Wahlsieges keinesfalls sicher sein – der Erfolg oder Misserfolg des Katastropheneinsatzes könnte am Ende entscheidend sein, ob Erdogan sich weiter an der Macht hält.

Der türkische Oppositionsführer warf Präsident Erdogan Versagen beim Krisenmanagement vor. „Wenn jemand hauptverantwortlich für diesen Verlauf ist, dann ist es Erdogan“, sagte der Chef der größten Oppositionspartei CHP in einem Video, das er am frühen Mittwochfrüh auf Twitter teilte.

Der Präsident habe es versäumt, das Land in seiner 20-jährigen Regierungszeit auf solch ein Beben vorzubereiten, sagte Kemal Kilicdaroglu, Chef der größten Oppositionspartei CHP. Er weigere sich, das, was geschehe, unabhängig von der Politik zu betrachten. „Dieser Zusammenbruch ist genau das Ergebnis einer systematischen Profitpolitik.“

Kilicdaroglu warf der Regierung vor, nicht mit den lokalen Behörden zusammenzuarbeiten. Außerdem habe sie Nichtregierungsorganisationen geschwächt, die hätten helfen können. Die Opposition hatte die Regierung zuvor zudem dazu aufgerufen, ohne jegliche Diskriminierung den Betroffenen zu helfen.

Erdogan kritisiert „Provokateure“

Erdogan räumte bei seinem ersten Besuch im Katastrophengebiet ein, dass es anfangs Probleme bei der Unterstützung gegeben habe. „Natürlich gibt es Defizite. Die Zustände sieht man ja ganz klar.“ Es sei nicht möglich, „auf so ein Erdbeben vorbereitet zu sein“, fügte er allerdings hinzu. Jetzt sei alles unter Kontrolle.

Gleichzeitig wies er Kritik an der Reaktion der Regierung entschieden zurück. Einheit und Solidarität seien jetzt angesagt. „In einer Zeit wie dieser kann ich es nicht ertragen, dass Menschen aus politischen Interessen negative Kampagnen betreiben.“ Offenbar in Anspielung auf die immer lauter werdende Kritik rief er dazu auf, nur auf Anweisungen der Behörden wie der Katastrophenschutzbehörde AFAD zu hören und nicht etwa auf „Provokateure“.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan besucht die vom Erdbeben betroffene Ortschaft Kahramanmaras
Reuters/Murat Cetinmuhurdar/Ppo
Erdogan besuchte am Mittwoch Katastrophengebiete

Protest gegen mutmaßliche Twitter-Sperre

Auch eine mutmaßliche Twitter-Sperre sorgte für Aufregung. Die Organisation Netblocks, die Internetsperren beobachtet, berichtete am Mittwoch über die Beschränkung von Twitter durch mehrere Internetanbieter in der Türkei. Von offizieller Seite gab es dafür keine Bestätigung. Den Kurznachrichtendienst erreichten Nutzer in der Türkei nur noch durch Tunneldienste (VPN). In den sozialen Netzwerken forderten Nutzer unter einem Hashtag die Freigabe von Twitter.

„Diese wahnsinnige Palastregierung hat die Kommunikation der sozialen Medien unterbrochen“, schrieb Kilicdaroglu auf Twitter. „Das Ergebnis ist, dass Hilferufe weniger gehört werden. Wir wissen, was sie alles zu verbergen versuchen. Wir warten auf eure Erklärung.“ Auch der türkische Schauspieler und Comedian Cem Yilmaz forderte Aufklärung. „Gibt es eine Erklärung dafür, dass Twitter beschränkt wurde, wo es doch nützlich sein kann, Leben zu retten?“ Immer wieder hatten in den vergangenen Tagen verschüttete Menschen über die sozialen Netzwerke Hilferufe abgesetzt.

Kritik an Dauer von Notstand

Die Auseinandersetzung ist auch vor dem Hintergrund des aktuellen Wahlkampfs in der Türkei zu verstehen: Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen würden regulär im Juni stattfinden, Erdogan hatte aber angekündigt, die Wahlen auf den 14. Mai vorzuziehen. Erdogan strebt im Mai seine Wiederwahl an. Umfragen zufolge kann er sich seines Sieges jedoch keinesfalls sicher sein, ein klarer Trend ist noch nicht auszumachen.

Am Dienstag hatte Erdogan einen dreimonatigen Ausnahmezustand für die zehn vom Erdbeben betroffenen Regionen ausgerufen. Er hatte zudem vor der Verbreitung von „Fake News“ gewarnt und angekündigt, dass man sich diese merken und „das Notizbuch öffnen“ werde, wenn der Tag gekommen sei.

Die Dauer des Notstands wird von Medien kritisch gesehen. „Der Notstand, der auf unheilvolle Weise bis kurz vor den hart umkämpften Wahlen in der Türkei im Mai andauern wird, verleiht (Erdogans) Regierung außergewöhnliche Befugnisse“, schreibt etwa die „Irish Times“. Internationale Geber sollten ihn auffordern, diese mit Zurückhaltung anzuwenden.

Beben wird Wahlkampf dominieren

Die Wahlen Mitte Mai dürften für den amtierenden Präsidenten zur größten Herausforderung in seinen zwei Jahrzehnten an der Spitze der Türkei werden. Das Erdbeben in der türkisch-syrischen Grenzregion könnte seine Chancen mindern, paradoxerweise aber auch erhöhen. Jeder Fehltritt oder Vorwurf, es stünden nicht genügend Rettungskräfte zur Verfügung, wirken sich Fachleuten zufolge negativ aus.

Fahrzeuge in Hatay (Türkei) unter Gebäudetrümmern vor der Ruine eines Hauses
Reuters/Umit Bektas
Die türkische Regierung bezeichnete die Beben als eine der schlimmsten Katastrophen der vergangenen Jahrzehnte

Schon jetzt sei klar, dass die Erdbebenkatastrophe, ihre Gründe und ihre Folgen zum Wahlkampfthema in der Türkei werden, schreibt auch die „Stuttgarter Zeitung“. Allerdings habe die Opposition bei der Erdbebenvorsorge auch keine blütenreine Weste: Auch in den von ihr regierten Großstädten wie Istanbul werde zu wenig getan, um die Gefahr zu entschärfen. „Kompetenzgerangel“ zwischen Erdogans Zentralregierung und oppositionsgeführten Rathäusern mache die Sache zudem nicht besser.

Analysten rechnen eher damit, dass Erdogan den Umgang mit dem Erdbeben und dem daraus resultierenden Wiederaufbau zu seinen Gunsten nutzen kann. „Erdogan hat schnell und konsequent auf die Krise reagiert“, erklärt die Beratungsfirma Eurasia Group. „Das wird sein Image vor der Wahl am 14. Mai aufpolieren – wenn die Regierung das Momentum aufrechterhält.“ Erdogan gilt als guter Wahlkämpfer. Zudem hat er bereits Erfahrung mit Naturkatastrophen wie Erdbeben und Waldbränden.

Türkei besonders erdbebengefährdet

Die Kosten für den Wiederaufbau der von dem Erdbeben betroffenen Region dürfte viele Milliarden Dollar verschlingen, sagt Analyst Atilla Yesilada von Global Source Partners. Das Ausmaß könnte sowohl die Wirtschaft als auch die Politik umkrempeln. Ob die Präsidenten- und Parlamentswahlen dort überhaupt vonstattengehen könnten, sei fraglich.

Die Türkei ist wegen ihrer geografischen Lage besonders erdbebengefährdet. Vielerorts werden jedoch auch die dürftige Bausubstanz sowie Pfusch am Bau als Gründe für die vielen eingestürzten Häuser diskutiert. An der türkischen Börse stiegen besonders die Aktien von Zementunternehmen, Tausende Häuser müssen ersetzt werden. Der Vorsitzende der türkischen Bauingenieurskammer, Taner Yüzgec, warf der Regierung vor, sie habe bei öffentlichen Gebäuden nicht die vorgeschriebenen Erdbebenverstärkungen veranlasst, berichtet der deutsche WDR.

Durch das Erdbeben zerstörte Gebäude in Antakya (Türkei)
AP/Khalil Hamra
Die Kosten für den Wiederaufbau der eingestürzten Häuser liegen im Milliardenbereich

Hoffen auf strengere Bauvorschriften

Erdbebenforscher hoffen, dass nach den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 14. Mai eine Regierung ins Amt kommt, die sich vorrangig um die Gebäudeverstärkung und die Durchsetzung strenger Bauvorschriften kümmert. Die Türkei hat seit dem Erdbeben 1999 in Izmit, bei dem mehr als 17.000 Menschen starben, eigentlich bereits strengere Bauvorschriften – allerdings bestehen viele ältere Gebäude noch aus Ziegelwänden und minderwertigem Beton.

In der Türkei fehle bisher jedoch der politische Wille, Sicherheitsvorkehrungen gegen die Interessen von Bauunternehmern und korrupten Politikern durchzusetzen – weshalb „die nächste Katastrophe nur eine Frage der Zeit“ sei, befürchtet etwa die „Stuttgarter Zeitung“. Es sei nur eine Frage der Zeit gewesen, dass diese Katastrophe passiere, sagte auch Bauingenieurin Lamia Messari-Becker gegenüber dem WDR. Die Region sei erst 2013 auf der Risikoskala hochgestuft worden.