Für jene, die in den ersten Tagen und Wochen des Krieges nach Wien kamen, war die erste Station meist das Humanitäre Ankunftszentrum in der Sport & Fun Halle im zweiten Bezirk oder das Beratungszentrum im Austria Center Vienna (ACV), Einrichtungen, die der Fonds Soziales Wien (FSW) innerhalb kürzester Zeit in Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen errichten konnte.
Auch für die 30-jährige Marija war die Halle in der Wiener Leopoldstadt die erste Station in Österreich. Ohne ein Wort Deutsch zu können, sei sie nach einer langen Reise in verschiedenen Bussen plötzlich in Wien gestanden, wie Tausende andere nur mit dem Allernotwendigsten im Gepäck. Kurz nach Kriegsausbruch verließ sie auf Drängen der Eltern das Land – die Mutter selbst wollte bei ihrem Vater und den Brüdern bleiben, die bis heute nicht ausreisen dürfen.

Diese erste Zeit in Wien verschwimme in ihrer Erinnerung, beschreibt Marija heute. „Es waren zu viele Gedanken. Angst um die Familie, Angst um die Zukunft. Verwirrende Sprache, Bürokratie und schreckliche Nachrichten.“ Seit ihrer Ankunft hat sie zwei Sprachkurse absolviert und arbeitet seit Kurzem – wie vor ihrer Flucht – als Friseurin. Natürlich habe sie auch Kontakt zu vielen Bekannten sowie Freundinnen und Freunden aus der Ukraine, die ebenfalls in Wien sind. Mit ihnen spricht sie viel über den Krieg und die Heimat, aber gleichzeitig rückt auch der „normale Alltag“ immer mehr in den Mittelpunkt. Über eine mögliche Rückkehr will Marija nicht sprechen: „Wir sehen die Bilder und hören Putin. Was wird noch übrig sein?“
„Früh klar, dass es Marathon wird“
Natürlich hätte man im Frühjahr 2022 gehofft, dass die Situation ein Sprint werden würde, beschreibt Martina Plohovits vom FSW im Gespräch mit ORF.at – „aber eigentlich war früh klar, dass es ein Marathon wird“. 9.500 Menschen wurden zu Spitzenzeiten im März vergangenen Jahres pro Woche im Ankunftszentrum betreut.
Aktuell befinden sich fast 23.000 Vertriebene aus der Ukraine in Wien in der Grundversorgung, in ganz Österreich sind es rund 55.900. Wien habe damit insgesamt in etwa so viele Menschen aufgenommen, „wie die Josefstadt Einwohner hat“, so Plohovits. Davon seien aber nur 14 Prozent in organisierten Einrichtungen, der Rest sei privat untergekommen. Vermittelt würden Wohnraumspenden – also oftmals vergünstigte Wohnungen Privater – über die Diakonie.
Großteil Frauen und Kinder
Der überwiegende Teil der Geflohenen ist weiblich – was primär daran liegt, dass wehrpflichtige Männer zwischen 18 und 60 Jahren das Land nur in Ausnahmefällen verlassen dürfen. Seit Beginn hat sich daran nicht viel geändert, so Plohovits. „Ganz am Anfang sind die Personen gekommen, die den Krieg nicht erlebt haben“, so Plohovits. „Die Menschen, die jetzt kommen, die haben ein Jahr Krieg hinter sich.“

Es kommen jetzt durchaus auch Kriegsversehrte oder Schwerkranke – aber im Wesentlichen sei es dabei geblieben, dass primär Frauen und Kinder kommen. Schwierig ist für sie oft auch die Trennung von den Älteren, von Eltern und Großeltern: Nur zehn Prozent aller Ukrainerinnen und Ukrainer in Österreich sind über 60 Jahre.
Sorge um Verwandte und Freunde in Heimat
Die ständige Sorge um die zurückgelassenen Verwandten und Freunde sei wie ein Damoklesschwert, beschreibt die 35-jährige Tatjana. „Man kann den Gedanken verdrängen, aber das gelingt, wenn überhaupt, immer nur für ganz kurze Zeit, immer noch“, beschreibt sie gegenüber ORF.at. Sie ist Mutter einer 14-jährigen Tochter und eines sechsjährigen Sohns und ebenfalls seit März in Österreich.
„Ich bin froh, dass ich meinen Kindern den Krieg erspart habe“, sagt Tatjana. Wären sie länger geblieben, hätten sie wohl mehr davon hautnah mitbekommen. In den ersten Wochen habe ihre Tochter am Fernunterricht ihrer Schule in der Ukraine teilgenommen, mittlerweile geht sie in ein Gymnasium in Wien, der Bruder in die erste Klasse Volksschule. Es sei ihr von Anfang an sehr wichtig gewesen, schnell Deutsch zu lernen, auch zur Ablenkung.

Die ersten Monate sei sie fix davon ausgegangen, dass sie spätestens im Herbst zurückgehen könnten, „wir haben uns auch täglich davon erzählt, wie es sein wird, was wir dann machen“. Im Sommer sei sie nach Hause gefahren – ohne die Kinder, die in der Zwischenzeit bei Bekannten bleiben konnten. „Ich habe so gehofft, dass ich in Kiew bin und dann denke: Wir können zurückgehen. Aber die Realität war anders. Ich möchte nicht, dass meine Kinder so aufwachsen, mit Luftalarm und der ständigen Angst.“
Viele verlassen Ukraine erst jetzt
Ein Jahr nach Kriegsbeginn kommen immer noch wöchentlich 350 bis 400 Menschen ins Ankunftszentrum der Stadt Wien, wo sie einerseits Beratung und Hilfe finden und andererseits auch Notschlafplätze zur Verfügung stehen. Die Einrichtung wurde im November eröffnet und vom Wiener Roten Kreuz unter der Leitung von Ulrike Karpfen betrieben – gemeinsam mit dem Fonds Soziales Wien, der Caritas der Erzdiözese Wien, der Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH und der Landespolizeidirektion Wien finden Ukrainerinnen und Ukrainer hier erste Informationen und Hilfe, egal ob sie weiterreisen oder bleiben wollen.
Sehr wenige Menschen, die jetzt, ein Jahr nach Kriegsbeginn, ankommen, haben noch keine Pläne und kein Ziel, beschreibt Karpfen im Gespräch mit ORF.at. Ganz viele würden in die Nähe ihrer Familie wollen, wenn sie schon Verwandte außerhalb der Ukraine haben. „Wir sehen schon, dass viele, die jetzt ankommen, die Entscheidung treffen zu bleiben. Am Anfang hieß es oft: ‚Ich komme gleich wieder zurück, das ist gleich wieder vorbei.‘ Das ist jetzt mit Ernüchterung anders.“
„Zukunft für die Kinder“
Gerade Familien mit jüngeren Kindern würden oft den Wunsch haben, neu zu starten, beschreibt die Leiterin des Ankunftszentrums. „Sie brauchen eine Zukunft für die Kinder. Es ist gespalten – es wollen wirklich viele zurück, es gehen auch viele schon jetzt wieder zurück, aber es gibt gefühlsmäßig mehr Personen, die jetzt sagen, sie möchten bleiben. Es kann ja auch keiner sagen, wie lange es dauert, und irgendwann muss man anfangen, den Kindern neuen Boden unter den Füßen zu geben.“

Es kommen Menschen, die lange Zeit ohne Strom, ohne ordentliche Versorgung durchgehalten haben, weil sie nicht gehen wollten, weil sie bei der Familie bleiben oder in der Ukraine noch einen wichtigen Beitrag leisten wollten – „aber irgendwann ist die Grenze erreicht, wo man sagt: Jetzt gehe ich doch.“ Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ankunftszentrums, von denen einige selbst aus der Ukraine stammen, haben auch zum Beispiel Eltern, die noch in der Ukraine durchhalten, obwohl die Situation gefährlich ist und die Versorgungslage schlecht – „eben weil sie ihre Heimat nicht verlassen wollen.“
Suche nach Sicherheit und Perspektiven
Andererseits würden viele Mütter, die selbst in der Ukraine bleiben, ihre 16- oder 17-jährigen Kinder nach Österreich bringen. „Sie gehen zurück, um zum Beispiel die eigenen Eltern zu versorgen, die nicht flüchten können oder wollen.“ Als unbegleitete, minderjährige Geflüchtete werden sie in Wohngemeinschaften oder anderen Einrichtungen der MA 11 untergebracht und haben hier die Chance, in Sicherheit zu leben und nach dem Schulabschluss zu studieren.
Ob und wann sie in ihre Heimat zurückgehen können und werden, ist auch ein Jahr nach dem Kriegsausbruch offen. Die Fortdauer der Kämpfe und das Ausmaß der Zerstörung in vielen Teilen der Ukraine verschieben die Perspektiven: „Auf Deutsch kann ich schon ‚zu Hause‘ sagen, wenn ich über unsere Wohnung in Wien spreche“, beschreibt es Tatjana.
Nicht nur emotional fällt ihr ein Neuanfang noch schwer – rein praktisch könnte sie ihn noch gar nicht planen. Wie die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer in Österreich hat Tatjana derzeit den Vertriebenenstatus – darf sich damit also ein Jahr in Österreich aufhalten und hier arbeiten. Die Regelung fällt unter die EU-Richtlinie für temporären Schutz, kann immer nur für ein Jahr verlängert werden und gilt derzeit höchstens bis März 2024. Die Bestimmung könnte aber auch früher beendet werden, wenn eine Rückkehr in die Ukraine wieder gefahrlos möglich würde, wie es beim Bundesamt für Asyl und Fremdenwesen heißt.
Hilfsorganisationen fordern rechtliche Änderungen
Hilfsorganisationen wie Caritas und Diakonie fordern von der Politik Veränderungen im Bezug auf die Perspektiven der Ukraine-Geflüchteten. „Wir müssen den Menschen aus der Ukraine langfristige Perspektiven ermöglichen. Nur so wird der Anreiz verstärkt, Deutsch zu lernen, mehrjährige Ausbildungen zu beginnen und die Menschen vermehrt in Arbeit zu bringen“, so Anna Parr, Generalsekretärin der Caritas Österreich in einer Aussendung. Sie fordern leichteren Zugang zu dauerhaften Aufenthaltstiteln wie der Rot-Weiß-Rot-Card für erwerbstätige Geflüchtete sowie eine Integration in das Sozialhilfesystem jener, die aktuell noch in der Grundversorgung sind.
Die Diakonie fordert ein „Ukrainer:innen-Gesetz“. „Das Einfachste wäre eine Angleichung des Status der Ukraine-Vertriebenen an jenen anerkannter Flüchtlinge. So wäre am besten abgesichert, was es für ein selbständiges Leben in Österreich braucht: ein dauerhaftes Bleiberecht, Existenzsicherung, Zugang zu Gesundheitsversorgung, Kinderbetreuung, Bildung und Arbeit“, so Diakonie-Direktorin Maria Katharina Moser. Das Mindeste aber sei, die Ukraine-Vertriebenen aus der Grundversorgung in die Sozialhilfe zu überführen: „Die Grundversorgung ist eine Art Warteposition. Nach einem Jahr Krieg können die Ukraine-Vertrieben nicht mehr warten. Wir brauchen jetzt eine Integrationsoffensive.“
Auch SOS-Kinderdorf drängt darauf, Vertriebene in die Sozialhilfe hineinzunehmen statt sie weiter in der Grundversorgung zu betreuen. „Der österreichische Staat hat von Beginn an die Schutzbedürftigkeit der Menschen aus der Ukraine anerkannt, trotzdem lässt man sie in einer Übergangslösung verharren, die es nicht erlaubt den Lebensunterhalt zu bestreiten“, bemängelte SOS-Kinderdorf-Geschäftsführer Christian Moser.