Menschen vor zerstörten Häuserresten
AP/Francisco Seco
Türkei und Syrien

Bereits mehr als 20.000 Tote

Drei Tage nach dem katastrophalen Beben in der Türkei und Syrien ist Donnerstagabend die Zahl der Toten auf mehr als 20.000 gestiegen. Trotz der schwindenden Chancen suchen die Einsatzkräfte und Angehörige weiter verzweifelt nach Überlebenden unter den Trümmern.

Tatsächlich wurden auch am Donnerstag noch mehrere Menschen lebend aus den Trümmern der eingestürzten Gebäude geborgen. Doch die Hoffnung auf solche Rettungen sinkt von Stunde zu Stunde. Allein in der Türkei mussten laut aktuellen Angaben bereits 17.134 Menschen tot geborgen werden. In Syrien kamen nach Angaben der Regierung und laut Hilfsmannschaften, die in von Rebellen kontrollierten Gebieten aktiv sind, mindestens 3.317 Menschen ums Leben.

Es wird befürchtet, dass die Zahl noch deutlich steigen wird. Außer Frage steht: Die Suche nach Überlebenden wird zunehmend zu einem Wettlauf gegen die Zeit. Aus den Erfahrungen vergangener Katastrophen ist bekannt, dass ungefähr nach 72 Stunden die Wahrscheinlichkeit für das Auffinden von Überlebenden dramatisch sinkt – und diese Zeitspanne ist seit Donnerstagfrüh verstrichen.

Zwei Kinder nach 84 Stunden gerettet

In der türkischen Provinz Kahramanmaras haben Einsatzkräfte rund 84 Stunden nach dem Beben zwei Brüder, fünf und elf Jahre alt, aus den Trümmern gerettet. Auf Bildern war zu sehen, wie die Brüder in Wärmedecken gepackt und weggetragen wurden. Die Retter hätten zunächst Stimmen gehört und ihre Arbeiten dann auf das eingestürzte Gebäude konzentriert, unter dem die Brüder begraben waren.

Bereits am Vormittag wurde in Kahramanmaras eine Mutter mit ihren zwei Kindern aus den Trümmern ihres Hauses geborgen, wo die drei zuvor rund 78 Stunden ausgeharrt hatten. Die Helfer fielen einander in die Arme. Einer sagte dem Sender CNN Türk, er sei glücklich über den kleinen Erfolg. 15 Stunden lang hätten sie daran gearbeitet, die Familie zu befreien. In der Stadt Hatay wurden 68 Stunden nach dem Beben ein Baby und wenig später auch ein Mann, bei dem es sich vermutlich um den Vater handelt, lebend aus den Trümmern gerettet.

Hatay: Baby nach 68 Stunden gerettet

In der türkischen Provinz Hatay ist rund 68 Stunden nach den verheerenden Erdstößen ein Baby lebend aus einem eingestürzten Gebäude gerettet worden. Nur wenige Stunden später wurde ein Mann aus demselben Haus geborgen, bei dem es sich vermutlich um den Vater des Kleinkindes handelt.

„Die Retter weigern sich aufzugeben.“ Aber die Momente der Freude über eine weitere Rettung würden immer seltener, sagte eine Reporterin von TRT – und in den Trümmern werden noch viele Menschen vermisst. Temperaturen unter dem Gefrierpunkt lassen die Chancen auf weitere Erfolgsmeldungen zusätzlich schwinden.

Helfer auf Trümmern
Reuters/Stoyan Nenov
Noch immer gelten viele Menschen in den Bebengebieten als vermisst

Hilfsangebote aus fast 100 Ländern

Mehr als 100.000 Helferinnen und Helfer sind in der Türkei nach Regierungsangaben im Einsatz, und täglich werden es mehr. Rund 6.500 Einsatzkräfte aus 56 Länder seien bereits im Einsatz, sagte am Donnerstag der türkische Außenminister Mevlut Cavusoglu. Hilfsangebote gibt es laut Cavusoglu mittlerweile aus 95 Ländern und von 16 international tätigen Organisationen.

Einige vom Beben betroffene Regionen waren bzw. sind weiter schwer zugänglich. In den ersten Tagen hatten gesperrte Flughäfen und verschneite Straßen die Ankunft von Rettungsmannschaften und Hilfslieferungen verzögert.

Erster UNO-Hilfskonvoi im syrischen Bebengebiet

Vor allem im Norden Syriens ist das Ausmaß der Katastrophe nur schwer abzuschätzen. Hilfe kommt weiter nur langsam voran – nicht zuletzt wegen der politischen Lage in dem Bürgerkriegsland. Die Nothilfe war UNO-Angaben zufolge auch wegen einer zerstörten Straße zum Grenzübergang Bab al-Hawa zwischen der Türkei und Syrien erschwert gewesen: Am Donnerstag erreichte über diesen Weg nun ein erster UNO-Hilfskonvoi das Bebengebiet im Nordwesten Syriens.

Personen auf Straße nach Erdbeben
Reuters/Khalil Ashawi
Vor allem in den von den Rebellen gehaltenen Gebieten in Syrien läuft die Hilfe nur langsam an

Auch das UNO-Welternährungsprogramm (WFP) hat Hilfe in die Wege geleitet. „Eine Region, die seit Jahren von immer neuen Krisen geplagt wird, steht vor einer weiteren Krise mit unvorstellbaren Verlusten und Zerstörungen“, sagte Corinne Fleischer, WFP-Regionaldirektorin für den Nahen Osten, Nordafrika und Osteuropa. Die EU will Anfang März eine Geberkonferenz für Syrien und die Türkei abhalten.

Dorf nach Dammbruch überflutet

Im Nordwesten Syriens flüchteten Bewohnerinnen und Bewohner aus einem Dorf, nachdem ein durch das schwere Erdbeben ausgelöster Dammbruch am Donnerstag zu einer Überflutung geführt hatte. Dutzende Familien verließen ihre Häuser in al-Tlul in der Provinz Idlib und suchten Zuflucht in nahe gelegenen Orten, während das Wasser ihre Häuser teilweise überflutete. Straßen und Felder in dem Ort nahe der türkischen Grenze wurden überschwemmt.

Kritik an Erdogans Krisenmanagement

Kritik am Krisenmanagement gibt es auch in der Türkei. Erdogan räumte am Mittwoch „Defizite“ ein. Am ersten Tag seines Besuches in der Erdbebenregion sagte er allerdings auch, es sei nicht möglich, „auf so ein Erdbeben vorbereitet zu sein“. Kritik aus den Reihen der Opposition wies er zurück.

Die Kritik am Krisenmanagement der türkischen Regierung betraf auch eine mehrstündige Einschränkung von Twitter während des Besuchs Erdogans im Erdbebengebiet. Das soziale Netzwerk war am Mittwoch größtenteils nicht erreichbar gewesen, wie AFP-Journalisten, Nutzer in der Türkei und die Netzwerkverkehr-Beobachtungsstelle Netblocks.org berichtet hatten.

Angesichts der verheerenden Ausmaße des Erdbebens im Süden der Türkei wackelt nun offenbar auch der Termin für die Wahlen im Mai. Der Unmut über das Katastrophenmanagement wächst, was auch Auswirkungen auf die für den 14. Mai geplanten Präsidenten- und Parlamentswahl haben könnte. Es wurden Zweifel laut, ob die Abstimmung überhaupt stattfinden kann. Ein Regierungsvertreter, der anonym bleiben wollte, sprach angesichts der Ausmaße des Bebens von „ersten Schwierigkeiten“ für die im Mai geplanten Wahlen.

Wagner (ORF) über die Rettungseinsätze

Türkei-Korrespondentin Katharina Wagner berichtet über die Herausforderungen und Anstrengungen der Rettungsteams im Erdbebenkatastrophengebiet.

Weltbank kündigt Hilfe an

Die Weltbank will der Türkei nach den verheerenden Erdbeben Unterstützung in Höhe von 1,78 Milliarden US-Dollar (1,66 Mrd. Euro) zur Verfügung stellen. Damit sollen die Hilfs- und Wiederaufbaumaßnahmen vorangetrieben werden, wie die Weltbank in Washington erklärte.

EU plant Geberkonferenz

Die EU will bei einer für Anfang März angekündigten Geberkonferenz zusätzliche internationale Hilfe mobilisieren. Die Türkei und Syrien „können auf die EU zählen“, teilte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf Twitter mit.

Zwei Tage nach der Türkei stellte nach Angaben des zuständigen EU-Kommissars Janez Lenarcic auch Syrien einen Antrag auf EU-Katastrophenhilfe. Lenarcic kündigte auch eine Reform der EU-Schutzmaßnahmen an. Künftig sollen etwa Frühwarnsysteme verbessert werden, damit Warnmeldungen gefährdete Menschen rechtzeitig erreichen.

Das Beben der Stärke 7,8 hatte die türkisch-syrische Grenzregion in der Nacht auf Montag erschüttert. Nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) könnten bis zu 23 Millionen Menschen von den Folgen des Bebens betroffen sein. In der Türkei wurden nach Angaben der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD zufolge bereits Zehntausende aus dem Bebengebiet gebracht. Allein aus der türkischen Provinz Kahramanmaras seien über 28.000 Menschen in anderen Landesteilen untergebracht worden.