Retter beim Abtransport einers Überlebenden am Freitagmorgen
Reuters/Stoyan Nenov
21.000 Tote in Türkei und Syrien

Retter finden immer noch Überlebende

Vier Tage nach dem verheerenden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet mit mittlerweile über 21.000 Toten entdecken Rettungsteams noch immer Überlebende unter eingestürzten Häusern. Trotz der eisigen Kälte in der Katastrophenregion hörten die Einsatzteams immer wieder die Laute Verschütteter, die verzweifelt auf Hilfe warteten, berichtete der türkische Sender TRT World Freitagfrüh. Auch die in der Türkei eingesetzte Spezialeinheit des Bundesheeres und weitere Organisationen melden Erfolge.

In den türkischen Medien wird immer noch von „unglaublichen Überlebensgeschichten“ berichtet: In der Nacht auf Freitag sorgte die Rettung eines 16-jährigen Mädchens aus einem eingestürzten Gebäude im stark verwüsteten Antakya für einen Hoffnungsschimmer.

In der Provinz Hatay schaffte es die zweijährige Fatima nach 88 Stunden unter Trümmern mithilfe ihrer Retter ins Freie. In Gaziantep fanden Hilfskräfte den 17-jährigen Adnan nach 94 Stunden lebend. Er sagte anschließend, er habe seinen Urin getrunken, um nicht zu verdursten.

Retter beim Abtransport eines Überlebenden
AP/IHA
Rettungskräfte beim Abtransport eines Überlebenden Freitagfrüh in der türkischen Stadt Gaziantep

Nach so langer Zeit noch lebende Verschüttete zu bergen, gleicht aber nahezu einem Wunder. Nur in seltenen Fällen überlebt ein Mensch mehr als drei Tage ohne Wasser, zudem herrschen eisige Temperaturen. „Wir machen weiter, bis wir sicher sind, dass es keine Überlebenden mehr gibt“, zitierten türkische Medien einen Sprecher der Einsatzkräfte.

„Es gibt noch Wunder“

Einzelne Erfolge meldet auch die mit etwa 80 Soldaten in der schwer betroffenen Provinz Hatay eingesetzte Spezialeinheit des Bundesheers (Austrian Forces Disaster Relief Unit, AFDRU). Es sei gelungen, in den Abend- und Nachtstunden sechs weitere Menschen zu retten, so Oberstleutnant Pierre Kugelweis im Ö1-Morgenjournal. Ein Mann sowie eine Familie seien aus verschütteten Hohlräumen geborgen worden. „Es gibt noch Wunder“, so Kugelweis. Es seien Tausende Häuser zerstört, die Herausforderung liege in der Größe des zerstörten Gebiets.

Auch das Rote Kreuz hilft nun bei der Suche. Menschen in Österreich, die den Kontakt zu ihren Angehörigen verloren haben, können sich unter tracing@roteskreuz.at an den Suchdienst wenden. Die Caritas verstärkte ebenfalls ihre Nothilfe für Syrien und die Türkei.

Auch der Samariterbund ist vor Ort zusammen mit anderen Organisationen im Einsatz und meldete am Freitag zwei Lebendbergungen. Und Andreas Knapp, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Nachbar in Not und Generalsekretär für Internationale Programme der Caritas Österreich, befand sich am Freitag auf dem Weg nach Aleppo, um sich ein Bild von der Lage an Ort und Stelle zu machen.

Zahl der Toten steigt rasant

Gleichzeitig steigt die Zahl der Toten in der Türkei und in Syrien rasant weiter, bis Freitagfrüh auf insgesamt 21.700 Opfer. Nach Angaben von Vizepräsident Fuat Oktay sind in der Türkei inzwischen 17.664 Tote zu beklagen. Die Zahl der Verletzten lag bei 72.879. In Syrien wurden bislang mehr als 3.300 Tote gefunden. „Es gibt hier keine Familie, die nicht betroffen ist“, sagte ein Mann, der in Kahramanmaras dabei half, Gräber auszuheben.

Oktay dankte allen Helfern. 75 Länder weltweit hätten Teams entsandt, sagte der Vizepräsident. Mehr als 8.000 Verschüttete wurden bislang gerettet. Fachleute befürchten aber, dass noch Zehntausende Erdbebenopfer unter den eingestürzten Gebäuden liegen könnten. Am frühen Montagmorgen hatte ein Beben der Stärke 7,8 das Grenzgebiet erschüttert. Montagmittag folgte dann ein weiteres Beben der Stärke 7,6 in der Region.

Retter in Jindayris, Türkei
APA/AFP/Ahmad al-Atrash
Die Rettungskräfte sind bereits seit Tagen im Dauereinsatz – nach wie vor melden sie Erfolge

Offizielle Beileidsbekundung der EU

Die Europäische Union sprach den Menschen in der Türkei und Syrien ihr Beileid aus und stellte weitere Hilfe in Aussicht. „Unsere Gedanken sind bei den Familien, die ihre Geliebten verloren haben, und bei denjenigen, die immer noch auf Neuigkeiten warten“, hieß es in einem von EU-Ratschef Charles Michel veröffentlichten Brief an den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Das Schreiben war beim EU-Gipfel in Brüssel von allen 27 Staats- und Regierungschefinnen und -chefs unterschrieben worden.

Die Weltbank kündigte an, der Türkei Unterstützung in Höhe von 1,78 Milliarden US-Dollar (1,65 Milliarden Euro) zur Verfügung zu stellen. Damit sollen die Hilfs- und Wiederaufbaumaßnahmen vorangetrieben werden, wie die Weltbank in Washington erklärte. Es sei zudem eine rasche Schadensbewertung eingeleitet worden, um das Ausmaß der Katastrophe abzuschätzen und vorrangige Bereiche für die Unterstützung des Wiederaufbaus zu ermitteln.

PKK verkündet Aussetzung ihrer „Operationen“ in Türkei

Unterdessen will die in der Türkei verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vorläufig alle „Operationen“ im Land einstellen. „Stoppt die Operationen in den Städten in der Türkei. Wir haben entschieden, keine Operationen auszuführen, solange uns der türkische Staat nicht angreift“, zitierte die der PKK nahestehende Nachrichtenagentur Firat in der Nacht zum Freitag den PKK-Führer Cemil Bayik.

Versorgung der Menschen in Syrien enorm schwierig

Die Versorgung der Menschen im schwer erreichbaren Nordsyrien ist indes äußerst schwierig – humanitäre Hilfe aus dem Ausland kann in dem vom Bürgerkrieg zerrütteten Land praktisch nicht anlaufen. Die Nothilfe war UNO-Angaben zufolge auch wegen einer zerstörten Straße zum Grenzübergang Bab al-Hawa zwischen der Türkei und Syrien erschwert gewesen: Am Donnerstag erreichte über diesen Weg nun ein erster UNO-Hilfskonvoi das Bebengebiet im Nordwesten Syriens.

Mehr als 21.000 Tote nach Erdbeben

Über 90 Stunden nach dem Erdbeben an der türkisch-syrischen Grenze sind mehr als 21.000 Todesopfer zu beklagen. Die Rettungsteams finden immer noch Überlebende unter eingestürzten Häusern.

90 Prozent der Bevölkerung waren dort bereits vor der Katastrophe nach UNO-Angaben auf humanitäre Hilfe angewiesen. In der Region leben Millionen Menschen, die durch Kämpfe in Syrien vertrieben wurden. „Die Menschen sind mit einem Alptraum nach dem anderen konfrontiert“, sagte UNO-Generalsekretär Antonio Guterres.

Syriens Präsident Assad besucht Klinik in Aleppo

Am Freitag wurden vom syrischen Präsidialamt Bilder verbreitet, die den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad bei einem Besuch der Universitätsklinik von Aleppo zeigt. Auf den Aufnahmen ist Assad mit seiner Frau beim Besuch von Verletzten zu sehen. Es handelt sich um die erste bekanntgewordene Reise Assads ins Katastrophengebiet seit dem schweren Beben am Montag.

Weißhelme: Keine humanitäre Hilfe eingetroffen

Unterdessen ist im Nordwesten des Landes nach Angaben der syrischen Rettungsorganisation Weißhelme bis Freitag keine humanitäre Hilfe der Vereinten Nationen für die Erdbebenopfer eingetroffen. Der Chef der Weißhelme, Raed al-Saleh, machte der UNO schwere Vorwürfe und appellierte an Regierungen in aller Welt, direkte Hilfe außerhalb der UNO zu organisieren.

Die Weißhelme sind eine private Zivilschutzorganisation von Freiwilligen und bezahlten Hilfsteams in Syrien, die seit 2013 im Bürgerkrieg in nicht von der Regierung kontrollierten Teilen des Landes aktiv ist. Sie ist nicht zu verwechseln mit den staatlichen syrischen Zivilschutzkräften.

„Die Vereinten Nationen sind auf der Seite der Regierung, nicht der Menschen“, sagte Saleh nach Angaben eines Übersetzers. „Sie sollten sich bei den Menschen entschuldigen.“ Saleh sprach aus der Region Idlib per Videolink zu Mitgliedern der Vereinigung der UNO-akkreditierten Presse in Genf (ACANU). Die Region wird von Aufständischen kontrolliert, die sich seit zwölf Jahren mit der Regierung in Damaskus im Krieg befinden.

Nach Angaben von Saleh waren in der Region seit dem Erdbeben am Montag sechs Lastwagen eingetroffen. Dabei handle es sich aber um Hilfsgüter des Welternährungsprogramms (WFP), die schon vor der Katastrophe auf dem Weg waren, wegen logistischer Hürden aber erst mit Verspätung in Atmeh eintrafen. Nach Angaben des WFP sind aber aus Lagern, die bereits in Nordwestsyrien waren, Nahrungsmittel an 24.000 Menschen verteilt worden.

WHO-Chef Tedros und IKRK-Präsidentin Spoljaric in Syrien

Zur Unterstützung der internationalen Hilfsaktionen im Erdbebengebiet reiste unterdessen die Präsidentin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) nach Syrien. „Ich bin heute Abend – mit trauerndem Herzen – in Aleppo in Syrien eingetroffen“, erklärte Mirjana Spoljaric am Donnerstagabend auf Twitter. Die Ortschaften und Menschen, die unter den jahrelangen Kämpfen zwischen Regierungstruppen und Rebellen leiden, seien jetzt durch das Erdbeben paralysiert.

Kurz zuvor hatte der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, mitgeteilt, dass er „auf dem Weg nach Syrien“ sei. Es gehe derzeit unter anderem um die Gewährleistung grundlegender sanitärer Bedingungen. Wohin Tedros genau reiste und wann er ankommen wollte, teilte er nicht mit.