Geflüchtete Menschen mit Rucksäcken auf dem Weg zur Grenze
Reuters/Marko Djurica
EU und die Zäune

Der Wind dreht sich

Bis in die frühen Morgenstunden ist auf dem EU-Sondergipfel der 27 Staats- und Regierungschefinnen und -chefs am Freitag um das Thema der irregulären Migration gerungen worden. Gegen drei Uhr Früh kam die Einigung. Die von Österreich geforderten EU-Gelder für Grenzzäune fanden sich in der Abschlusserklärung zwar nicht explizit, der Ton wird in dieser Frage aber rauer.

Noch nie sei „so klar und ehrlich“ über Migration gesprochen worden, sagte Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) kurz nach drei Uhr Früh zu Journalistinnen und Journalisten. Die Abschlusserklärung verkauft er trotz der unerwähnten Grenzzäune als Erfolg. Bei fehlenden Beschlüssen drohte Nehammer vor dem Gipfel mit einer Blockade. Österreich war es unter anderem auch, das den Sondergipfel infolge seines Neins zum Schengen-Beitritt Bulgariens und Rumäniens und einer Debatte rund um irreguläre Migration erzwungen hatte.

Und tatsächlich: Davon, dass sich der Wind in der EU gedreht hat, war im Brüsseler EU-Viertel in den Tagen vor dem EU-Sondergipfel immer wieder die Rede. Das EU-Magazin „Politico“ schreibt angesichts der Abschlusserklärung nun auch von einer „bemerkenswerten Veränderung“, wurden Grenzzäune von der EU vor wenigen Jahren doch in Anspielung an die von Ex-US-Präsident Donald Trump geplante Mauer zu Mexiko unter dem Motto „mehr Show als Nutzen“ noch als „Trump’sche Lösung“ abgetan.

Bulgarien bekommt Pilotprojekt

Die EU-Spitzen forderten die Kommission in der gemeinsamen Gipfelerklärung konkret dazu auf, „unverzüglich umfangreiche EU-Mittel zu mobilisieren, um die Mitgliedsstaaten beim Ausbau der Grenzschutzkapazitäten und -infrastrukturen, der Überwachungsmittel, einschließlich der Luftüberwachung, und der Ausrüstung zu unterstützen.“

Eine indirekte Finanzierung von Grenzzäunen sei aufgrund der Einigung möglich, hielt Nehammer auf Nachfrage fest. Für Bulgarien bedeute das etwa konkret, dass es im Zuge eines Pilotprojekts Zusagen für Personalplanung, Fahrzeuge, technische Ausrüstung und Überwachung erhalte, sagte der österreichische Kanzler ebenso wie die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

Einigung bei EU-Migrationsgipfel

Der EU-Migrationsgipfel in Brüssel ist nach langen Verhandlungen zu Ende gegangen. Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) ist mit den Ergebnissen zufrieden.

Dadurch würden nationale Budgetmittel frei, die Bulgarien dann wieder in die Verstärkung des Grenzzauns zur Türkei einsetzen könne, so Nehammer. Er hatte allein zwei Milliarden Euro für den Ausbau der Grenzbefestigung zwischen dem EU-Mitglied Bulgarien und der Türkei verlangt. Konkret haben bisher Ungarn, Slowenien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Bulgarien und Griechenland Zäune an ihren EU-Außengrenzen errichtet. EU-Gelder gab es dafür nicht.

Kurswechsel in Kommission?

Von der Leyen hatte sich bisher gegen Gemeinschaftsmittel für „Stacheldrahtzäune und Mauern“ gesperrt. In Brüssel wird aber vermutet, dass sie ihre Haltung mit Blick auf eine mögliche zweite Amtszeit nach der Europawahl 2024 aufweicht. Gegen Zäune hatten sich auf dem Gipfel Deutschland, Luxemburg und Finnland ausgesprochen. „Es wäre eine Schande, wenn eine Mauer in Europa gebaut würde, mit den europäischen Sternen drauf“, sagte Luxemburgs Regierungschef Xavier Bettel etwa.

Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen und der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel
IMAGO/Le Pictorium/Nicolas Landemard
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratschef Charles Michel traten Freitagfrüh vor die Presse

Einig waren sich die EU-Staaten darin, dass mehr Druck auf sichere Herkunftsländer gemacht werden soll, die bei der Rücknahme abgelehnter Asylwerberinnen und -werber nicht kooperieren. Druck wollen die Mitgliedsstaaten etwa über Visaverschärfungen, eine schärfere Handelspolitik und beschnittene Entwicklungshilfe machen, zugleich sollen aber auch Möglichkeiten für legale Migration geschaffen werden.

Die Zahl der Asylanträge stieg 2022 im Vergleich zum Vorjahr um fast 50 Prozent auf 924.000. Hinzu kamen rund vier Millionen Geflüchtete aus der Ukraine, die in der EU nicht Asyl beantragen müssen.

EU beschließt strengere Asylpolitik

Bei einem EU-Gipfel in Brüssel wurde eine Verschärfung der Asyl- und Migrationspolitik beschlossen. Bundeskanzler Nehammer (ÖVP) bezeichnet die Einigung als Erfolg.

Forscher: Zäune machen Flucht gefährlicher

Bemerkenswert war die Zaundebatte auch deshalb, weil in der Migrationsforschung der Konsens besteht, dass Zäune Migrationsströme nur punktuell verringern, Menschen per se aber nicht von der Flucht abhalten. Vielmehr würden dadurch nur gefährlichere Fluchtrouten gewählt, erklärte der Migrationsforscher Florian Trauner kürzlich gegenüber ORF.at.

Im Fall der EU ist das das Mittelmeer, wo Jahr für Jahr unzählige Menschen ertrinken. „Man kann sehen, dass es einen Verdrängungseffekt zur Seebootüberfahrt gibt, dass mehr Menschen ihr Leben riskieren und es mehr Unfälle auf See gibt, wenn Zäune errichtet werden“, sagte Trauner.

„System struktureller Gewalt“

Abschreckungsmaßnahmen und Grenzzäune stünden für „ein System struktureller Gewalt“, hieß es vor dem Gipfel in einem Statement von Ärzte ohne Grenzen. „Diese Gewalt ist nicht im Einklang mit bestehenden Werten und Rechtssystemen, weder den Menschenrechten, den EU-Grundrechten noch dem internationalen Völkerrecht.“

Zur Erinnerung: Eine Einigung über einen neuen Asyl- und Migrationspakt gibt es etwa nach wie vor nicht. Neun Gesetzesvorschläge liegen seit 2020 auf dem Tisch, davon umgesetzt wurde bisher nur einer: die EU-Asylbehörde EUAA. Die schwedische Ratspräsidentschaft strebt in der Frage aber Fortschritte an. Eine Einigung soll noch vor den Europawahlen 2024 erzielt werden, also unter der belgischen EU-Ratspräsidentschaft.

„Stargast“ überstrahlt Sondergipfel

Die irreguläre Migration war zwar das umstrittenste, aber freilich nicht das einzige Thema des Gipfels. Überstrahlt wurde der Gipfel vom Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Auf die von der Ukraine geforderte rasche Beitrittsperspektive wollte man sich in Brüssel nicht einlassen.

Gruppenfotos des EU-Gipfels in Brüssel mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj
Reuters/Yves Herman
Selenskyj als „Stargast“ des EU-Sondergipfels

„Bitte warten“ hieß es in der Kampfjetfrage: Der französische Präsident Emmanuel Macron sagte zum Abschluss des Gipfels, er rechne nicht mit Kampfjetlieferungen „in den kommenden Wochen“. Scholz sagte, Kampfjets seien für ihn „kein Gesprächsthema“ gewesen.

Konkreter wurde es in Sachen Sanktionen: Von der Leyen versprach diesbezüglich, dass die EU neue Russland-Sanktionen gegen „Putins Propagandisten“ ins Visier nehmen würde. Außerdem soll das bereits zehnte Sanktionspaket, an dem die EU derzeit arbeitet, weitere Exportverbote im Volumen von mehr als zehn Mrd. Euro umfassen.

Lockerung der Beihilferegeln für grüne Technologien

Der Gipfel beriet zudem über Europas Antwort auf das milliardenschwere US-Subventionspaket für saubere Technologien. Die EU will den Mitgliedsstaaten künftig mehr „gezielte, zeitlich begrenzte und verhältnismäßige“ staatliche Subventionen für Firmen erlauben, um im Wettbewerb mit den USA um die Produktion umweltfreundlicher Technologien bestehen zu können. Die Beihilfeverfahren müssten einfacher, schneller und berechenbarer werden.

Ausdrücklich wird als Antwort auf das große US-Subventionspaket im Bereich klimafreundlicher Technologie erwähnt, dass in der EU in Zukunft – ähnlich wie in den USA – auch Steuergutschriften für Unternehmen erlaubt werden sollen, die umweltfreundliche Produkte herstellen. Detaillierte Beschlüsse dürften erst auf dem EU-Gipfel im März fallen.