Mitglieder der syrischen Zivilschutzorganisation „Weiße Helme“ bergen eine verschüttete Person
APA/AFP/Omar Haj Kadour
Kaum Versorgung nach Beben

Ärzte und Retter senden Hilferufe aus Syrien

Die Arbeit der Hilfsteams im Erdbebengebiet in der Türkei und in Syrien ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Und obwohl noch Überlebende nach bis zu 100 Stunden unter Trümmern geborgen werden, wird die Zeit knapp. Während die Gesamtzahl der Opfer auf mehr als 22.000 Tote stieg, rollt zunehmend internationale Hilfe für die Überlebenden an. Doch diese Hilfe kann sich lediglich auf die Türkei fokussieren, in das vom Bürgerkrieg zerrüttete Syrien dringt kaum Hilfe – Ärzte und Retter senden Hilferufe.

So sei im Nordwesten des Landes nach Angaben der syrischen Rettungsorganisation Weißhelme bis Freitag keine humanitäre Hilfe der Vereinten Nationen für die Erdbebenopfer eingetroffen. Der Chef der Weißhelme, Raed al-Saleh, machte der UNO schwere Vorwürfe und appellierte an Regierungen in aller Welt, direkte Hilfe außerhalb der UNO zu organisieren.

Die Weißhelme sind eine private Zivilschutzorganisation von Freiwilligen und bezahlten Hilfsteams in Syrien, die seit 2013 im Bürgerkrieg in nicht von der Regierung kontrollierten Teilen des Landes aktiv ist. Sie ist nicht zu verwechseln mit den staatlichen syrischen Zivilschutzkräften.

Türkei/Syrien: Kälte erschwert Rettungseinsätze

Mehr als 100 Stunden nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei und in Syrien wurden bereits über 22.000 Tote gemeldet. Die kaputten Straßen und die eisigen Temperaturen erschweren die Rettungseinsätze zusätzlich zum Zeitfaktor.

„Die Vereinten Nationen sind auf der Seite der Regierung, nicht der Menschen“, sagte Saleh nach Angaben eines Übersetzers. „Sie sollten sich bei den Menschen entschuldigen.“ Saleh sprach aus der Region Idlib per Videolink zu Mitgliedern der Vereinigung der UNO-akkreditierten Presse in Genf (ACANU). Die Region wird von Aufständischen kontrolliert, die sich seit zwölf Jahren mit der Regierung in Damaskus im Krieg befinden.

Weißhelme: Erst sechs Lastwagen eingetroffen

Nach Angaben von Saleh waren in der Region seit dem Erdbeben am Montag sechs Lastwagen eingetroffen. Dabei handle es sich aber um Hilfsgüter des Welternährungsprogramms (WFP), die schon vor der Katastrophe auf dem Weg waren, wegen logistischer Hürden aber erst mit Verspätung in Atmeh eintrafen. Nach Angaben des WFP sind aber aus Lagern, die bereits in Nordwestsyrien waren, Nahrungsmittel an 24.000 Menschen verteilt worden.

Zerstörung in Jandaris (Syrien) nach dem schweren Erdbeben
Reuters/Khalil Ashawi
Schwerste Zerstörung im syrischen Jandaris im Distrikt Afrin im Gouvernement Aleppo

Gleichzeitig harrten Tausende Familien bei niedrigen Temperaturen im Freien aus, ohne Zelte und ohne Nahrungsmittel oder andere Hilfsgüter, sagte Saleh. Das UNO-Nothilfebüro OCHA habe mehrfach nach dem Bedarf gefragt, aber nichts geschickt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte am Mittwoch in Genf zwei Frachtmaschinen voller Hilfsgüter für Damaskus angekündigt, aber nach Angaben von Saleh war bis Freitag aus regierungskontrollierten Gebieten nichts in der Region angekommen.

UNO meldet Grenzpassage von Lkw-Konvois

Nach Angaben der UNO-Organisation für Migration (IOM) war am Donnerstagabend der erste aus der Türkei geschickte UNO-Konvoi aus sechs Lastwagen in der Rebellenregion eingetroffen. An Bord waren Decken, Matratzen, Zelte, Solarlampen und anderes für mindestens 5.000 Menschen. Ein zweiter Konvoi mit 14 Lastwagen überquerte Freitagfrüh die Grenze und war auf dem Weg nach Idlib, wie ein IOM-Sprecher in Genf sagte.

Syrien: UNO gehen Essensvorräte aus

Nach den verheerenden Erdbeben in der Türkei und in Syrien hat das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) auf die katastrophale Versorgungslage aufmerksam gemacht. Laut eigenen Angaben gehen die Vorräte im Nordwesten Syriens aus. Um die Lager wieder auffüllen zu können, müssten weitere Übergänge an der Grenze zur Türkei geöffnet werden.

Die Nothilfe war UNO-Angaben zufolge auch wegen einer zerstörten Straße zum Grenzübergang Bab al-Hawa zwischen der Türkei und Syrien erschwert gewesen. Zudem waren 90 Prozent der Bevölkerung in den von den Folgen des Erdbebens betroffenen Gegenden in Syrien bereits vor der Katastrophe nach UNO-Angaben auf humanitäre Hilfe angewiesen. In der Region leben Millionen Menschen, die durch Kämpfe in Syrien vertrieben wurden. „Die Menschen sind mit einem Alptraum nach dem anderen konfrontiert“, sagte UNO-Generalsekretär Antonio Guterres.

UNO geht Nahrungsmittelvorrat aus

Zugleich macht das WFP auf die katastrophale Versorgungslage aufmerksam: Laut eigenen Angaben gehen die Vorräte im Nordwesten Syriens aus. Um die Lager wieder auffüllen zu können, müssten weitere Übergänge an der Grenze zur Türkei geöffnet werden, fordert die für den Nahen Osten zuständige Managerin der Einrichtung der Vereinten Nationen, Corinne Fleischer, vor Journalisten in Genf. „Der Nordwesten Syriens, wo 90 Prozent der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, ist ein großes Problem. Wir haben die Menschen dort erreicht, aber wir müssen unsere Vorräte wieder auffüllen.“

Mitglieder der syrischen Zivilschutzorganisation „Weiße Helme“ machen vor Gebäudetrümmern eine Pause
Reuters/White Helmets
Mitglieder der syrischen Zivilschutzorganisation Weißhelme vor Gebäudetrümmern – sie sind nach den tagelangen Einsätzen völlig erschöpft

Arzt: Versorgung deckt nicht einmal Fünftel des Bedarfs

Auch die medizinische Versorgung ist enorm limitiert. Ein Arzt zweier Spitäler, der die Opfer des Erdbebens in dem von Rebellen kontrollierten Nordsyrien behandelt, rief die internationale Gemeinschaft in einem Interview mit dem britischen Radio 4 auf, die medizinische Hilfe zu verstärken. Er verwies auf den Umstand, dass in den beiden Krankenhäusern am ersten Tag nach dem Erdbeben mehr als 350 Menschen gestorben seien – danach sei die Zahl der Toten „sehr schnell angestiegen“.

„Die medizinische Versorgung, die wir haben, deckt nicht einmal den Bedarf von 20 Prozent der Menschen im Norden Syriens. Und natürlich ist das Ausmaß der durch das Erdbeben verursachten Schäden mit dem, was wir bereits haben, nur schwer zu bewältigen.“ Man brauche dringend mehr medizinische Hilfsgüter, Hilfe und Ausbildung, damit mehr Menschen behandelt werden könnten, so der Arzt, der von der britischen BBC zitiert wurde.

Syriens Präsident Assad besucht Klinik in Aleppo

Unterdessen wurden am Freitag vom syrischen Präsidialamt Bilder verbreitet, die den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad bei einem Besuch der Universitätsklinik von Aleppo zeigen. Auf den Aufnahmen ist Assad mit seiner Frau beim Besuch von Verletzten zu sehen. Es handelt sich um die erste bekanntgewordene Reise Assads ins Katastrophengebiet seit dem schweren Beben am Montag.

Der syrische Machthaber ist international und auch innerhalb der arabischen Welt weitgehend isoliert. Im Land war nach Protesten gegen die Regierung 2011 ein Bürgerkrieg ausgebrochen. Assad geht in diesem Krieg mit mehr als 350.000 Toten brutal gegen die eigene Bevölkerung vor. Ihm werden etwa Verbrechen gegen die Menschlichkeit angelastet, darunter der Einsatz von Chemiewaffen. In diesem Umstand liegt nun auch das Problem für die internationale Hilfe für das Land.

So teilte etwa die deutsche Bundesregierung mit, man kooperiere bei der Erdbebenhilfe in Syrien nicht mit Präsident Baschar al-Assad. Das sagte eine Sprecherin des Auswärtigen Amts am Freitag in Berlin. Man arbeite in dem vom Erdbeben betroffenen Gebiet in Syrien mit bewährten Partnern zusammen, „mit Organisationen der Vereinten Nationen und ganz konkret nicht mit der Regierung von Herrn Assad“.

WHO-Chef Tedros und IKRK-Präsidentin Spoljaric in Syrien

Zur Unterstützung der internationalen Hilfsaktionen im Erdbebengebiet reiste unterdessen die Präsidentin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) nach Syrien. „Ich bin heute Abend – mit trauerndem Herzen – in Aleppo in Syrien eingetroffen“, erklärte Mirjana Spoljaric am Donnerstagabend auf Twitter. Die Ortschaften und Menschen, die unter den jahrelangen Kämpfen zwischen Regierungstruppen und Rebellen leiden, seien jetzt durch das Erdbeben paralysiert.

Kurz zuvor hatte der Generaldirektor der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, mitgeteilt, dass er „auf dem Weg nach Syrien“ sei. Es gehe derzeit unter anderem um die Gewährleistung grundlegender sanitärer Bedingungen. Wohin Tedros genau reiste und wann er ankommen wollte, teilte er nicht mit.

In Türkei mehr als 7.000 Helfer aus 61 Ländern im Einsatz

Unterdessen erhält die Türkei bei der Suche nach Überlebenden Unterstützung von mehr als 7.000 ausländischen Hilfskräften. Einsatzkräfte aus 61 Ländern seien dazu im Land, teilte das Außenministerium in Ankara am Freitag auf Twitter mit. Insgesamt erhielt die Türkei Unterstützung durch Hilfslieferungen aus 97 verschiedenen Ländern. Auch österreichische Rettungsteams sind in der Türkei im Einsatz.

In den türkischen Medien wird immer noch von „unglaublichen Überlebensgeschichten“ berichtet: In der Nacht auf Freitag sorgte die Rettung eines 16-jährigen Mädchens aus einem eingestürzten Gebäude im stark verwüsteten Antakya für einen Hoffnungsschimmer.

In der Provinz Hatay schaffte es die zweijährige Fatima nach 88 Stunden unter Trümmern mithilfe ihrer Retter ins Freie. In Gaziantep fanden Hilfskräfte den 17-jährigen Adnan nach 94 Stunden lebend. Er sagte anschließend, er habe seinen Urin getrunken, um nicht zu verdursten.

Retter beim Abtransport eines Überlebenden
AP/IHA
Rettungskräfte beim Abtransport eines Überlebenden Freitagfrüh in der türkischen Stadt Gaziantep

Nach so langer Zeit noch lebende Verschüttete zu bergen, gleicht aber nahezu einem Wunder. Nur in seltenen Fällen überlebt ein Mensch mehr als drei Tage ohne Wasser, zudem herrschen eisige Temperaturen. „Wir machen weiter, bis wir sicher sind, dass es keine Überlebenden mehr gibt“, zitierten türkische Medien einen Sprecher der Einsatzkräfte.

„Es gibt noch Wunder“

Einzelne Erfolge meldet auch die mit etwa 80 Soldaten in der schwer betroffenen Provinz Hatay eingesetzte Spezialeinheit des Bundesheers (Austrian Forces Disaster Relief Unit, AFDRU). Es sei gelungen, in den Abend- und Nachtstunden sechs weitere Menschen zu retten, so Oberstleutnant Pierre Kugelweis im Ö1-Morgenjournal. Ein Mann sowie eine Familie seien aus verschütteten Hohlräumen geborgen worden. „Es gibt noch Wunder“, so Kugelweis. Es seien Tausende Häuser zerstört, die Herausforderung liege in der Größe des zerstörten Gebiets.

Auch das Rote Kreuz hilft nun bei der Suche. Menschen in Österreich, die den Kontakt zu ihren Angehörigen verloren haben, können sich unter tracing@roteskreuz.at an den Suchdienst wenden. Die Caritas verstärkte ebenfalls ihre Nothilfe für Syrien und die Türkei. Auch der Samariterbund ist zusammen mit anderen Organisationen im Einsatz und meldete am Freitag zwei Lebendbergungen.