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AP/Emrah Gurel
Fast zwei Minuten

Erde bebte ungewöhnlich lang

Die immensen Zerstörungen im türkisch-syrischen Bebengebiet sind auch auf die ungewöhnlich lange Dauer der ersten Erschütterungen am Montag zurückzuführen. Nach Angaben der türkischen Katastrophenschutzbehörde dauerten diese insgesamt fast zwei Minuten. Auch die Missachtung von Bauvorschriften trug das Ihre zur Katastrophe bei.

Montagfrüh hatte ein Beben der Stärke 7,8 das Grenzgebiet erschüttert, gefolgt von einem weiteren Beben der Stärke 7,6 zu Mittag. Das erste der beiden Beben am Montag habe etwa 65 Sekunden gedauert, das zweite 45 Sekunden, sagte der Chef der Abteilung für Erdbeben und Risikoverminderung in der Katastrophenschutzbehörde AFAD, Orhan Tatar, am Samstag laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu.

Zahl der Toten steigt rasant

Seither gab es bis Samstag mehr als 2.000 Nachbeben in der Region, wie die türkische Katastrophenschutzbehörde AFAD mitteilte. Das betroffene Gebiet erstreckt sich über ein etwa 450 Kilometer breites Gebiet. Über 28.000 Todesopfer wurden bisher gezählt. Der türkische Vizepräsident Fuat Oktay sprach in der Nacht auf Sonntag von 24.617 Toten. Aus Syrien wurden zuletzt 3.574 gemeldet. Knapp 80.300 Verletzte wurden bisher registriert.

UNO: Zahl der Toten könnte auf mehr als 50.000 steigen

Schätzungen der UNO zufolge wird die Zahl der Toten möglicherweise noch auf mehr als 50.000 ansteigen. UNO-Nothilfekoordinator Martin Griffiths sagte am Samstag bei einem Besuch im Erdbebengebiet in der Türkei im Sender Sky News, eine genaue Schätzung sei nach wie vor schwierig, die Opferzahl werde sich aber sicherlich noch „verdoppeln oder mehr“.

Eingestürzte Häuser in türkischer Stadt Antakya
AP/Hussein Malla
Die Zerstörungen sind auch auf die Dauer der ersten beiden Beben zurückzuführen

Baby nach 134 Stunden gerettet

Etwa 24,4 Millionen Menschen sind der Türkei zufolge von den Erdbeben betroffen. Über eine Million Menschen hätten kein Dach mehr über dem Kopf und seien in Notunterkünften untergebracht, sagte der türkische Vizepräsident Fuat Oktay. Hunderttausende Gebäude seien nicht mehr bewohnbar, hatte zuvor Präsident Recep Tayyip Erdogan gesagt.

Trotz schwindender Hoffnungen gelingt es den Rettungskräften aber auch fünf Tage nach der Katastrophe immer wieder, Menschen lebend aus den Trümmern zu retten. 122 Stunden nach den Erdbeben wurden in der Türkei zwei Frauen gerettet. Vorarlberger Rettungskräften gelang es zudem, ein 15-jähriges Mädchen aus den Trümmern eines eingestürzten Hauses lebend zu befreien – mehr dazu in vorarlberg.ORF.at.

Wettlauf mit der Zeit nach Erdbeben

Über 28.000 Tote sind fast eine Woche nach dem Erdbeben an der türkisch-syrischen Grenze bereits offiziell gemeldet worden. Laut UNO könnten sich die Zahlen vor allem in Syrien noch mehr als verdoppeln. Die Einsatzkräfte arbeiten weiter im Wettlauf mit der Zeit.

Auch wurde in Antakya ein fünf Monate altes Baby nach 134 Stunden lebend aus den Trümmern geholt, wie der staatliche türkische Fernsehsender TRT in der Nacht auf Sonntag berichtete. Auf TV-Bildern war zu sehen, wie ein Helfer kopfüber in ein metertiefes Loch hinabgelassen wurde, um zu dem Säugling zu gelangen. Das sichtlich entkräftete Kind wurde nach seiner Befreiung an Rettungssanitäter übergeben.

Da Menschen nur in seltenen Fällen länger als drei Tage ohne Wasser überleben können und die Vermisstenzahlen noch immer sehr hoch sind, ist zu befürchten, dass die Opferzahlen noch drastisch steigen dürften. UNO-Nothilfekoordinator Martin Griffiths bezeichnete am Samstag das verheerende Erdbeben als das „schlimmste Ereignis seit 100 Jahren in dieser Region“.

Festnahmen nach Gebäudeeinstürzen

Dass die Beben so zerstörerisch waren, ist offenbar nicht nur auf ihre ungewöhnlich lange Dauer zurückzuführen. Am Samstag wurden im Süden der Türkei mindestens 14 Menschen wegen mutmaßlicher Fahrlässigkeit festgenommen. Ein Haftbefehl sei auch gegen 33 Menschen in der Stadt Diyarbakir ergangen, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu unter Berufung auf Strafverfolger.

Soldaten in Kahramanmaras
AP/Kamran Jebreili
Die Sicherheitslage im Katastrophengebiet wird zunehmend angespannter

Sie sollen für etwaige Bauschäden wie das Entfernen von Betonsäulen verantwortlich sein, die den Einsturz der Gebäude begünstigten. Einer der Verdächtigen wurde den Angaben zufolge am Flughafen in Istanbul gefasst. Er soll versucht haben, mit Bargeld nach Montenegro zu fliehen. Neun weitere Verdächtige wurden in den Städten Sanliurfa und Osmaniye verhaftet.

Bauvorschriften oft ignoriert

Nach dem großen Erdbeben von 1999 in der Türkei mit knapp 18.000 Toten hatte die Regierung die Baugesetze zwar verschärft, doch die Behörden hätten versäumt, alte Häuser erdbebensicher zu sanieren, kritisierte unlängst Nusret Suna von der Bauingenieurskammer. Und selbst Gebäude, die nach 1999 gebaut wurden, seien trotz entsprechender Regularien oft nicht sicher. Architekten, Bauunternehmen und andere Verantwortliche ignorierten häufig „ethische Prinzipien und moralische Werte“ und agierten von Profitgier getrieben.

Mann inmitten eingestürzter Häuser in türkischer Stadt Hatay
AP/Hussein Malla
Viele Häuser stürzten ein, weil die Bauvorschriften missachtet wurden

Oya Özarslan von der Organisation Transparency International in der Türkei, die sich mit Korruption beschäftigt, schilderte ähnliche Probleme. Und der ehemalige Vorsitzende der Bauingenieurskammer, Cemal Gökce, erzählte von der gängigen Praxis: „Ein Grundproblem in der Türkei ist, dass auf vorschriftsmäßig gebaute Gebäude illegale Stockwerke gesetzt werden, ohne auf Vorschriften zu achten.“ Diese Probleme seien aber nicht erst unter der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan aufgetreten, so Gökce.

Mehr als 8.000 Helfer aus 68 Ländern in der Türkei

Insgesamt seien derzeit 8.513 Helfer in den betroffenen Gebieten im Einsatz, teilte das Außenministerium in Ankara am Samstag auf Twitter mit. Einsatzkräfte aus 68 Ländern – darunter auch Österreich – seien im Land. Insgesamt 99 verschiedene Länder hätten Unterstützung angeboten, hieß es. Nach Angaben des Ministeriums werden noch Hilfsteams aus 15 Ländern mit insgesamt 1.657 Helfern erwartet.

Seit Montag mangelt es vielerorts weiter an Lebensmitteln, Trinkwasser und funktionierenden Toiletten. Erdogan sagte, dass in einigen Teilen des Landes der Ausnahmezustand verhängt worden sei. Menschen, die Märkte plünderten oder Geschäfte angriffen, sollten so leichter bestraft werden. Allerdings stieg in der Bevölkerung auch Wut und Verzweiflung über die zu langsam angelaufenen Hilfsaktionen der offiziellen Behörden. Es soll zu Tumulten gekommen sein.

Deswegen mussten mehrere Rettungskräfte ihren Einsatz zeitweise unterbrechen – darunter auch das österreichische Bundesheer. „Es gibt zunehmend Aggressionen zwischen Gruppierungen in der Türkei. Es sollen Schüsse gefallen sein“, sagte Oberstleutnant Pierre Kugelweis der APA. „Momentan hat die türkische Armee den Schutz unseres Kontingents übernommen“, sagte Marcel Taschwer, Sprecher des Verteidigungsministeriums.

Zwischenzeitlich konnten die Österreicher ihre Arbeiten wieder aufnehmen. „Die türkischen Sicherheitskräfte schaffen uns ein sicheres Umfeld“, sagte Kugelweis Sonntagvormittag der APA. Am Samstag seien die Helfer ab dem Nachmittag noch bei zwei Einsätzen zum Teil bis in die Nacht aktiv gewesen, um örtliche Hilfsgruppen zu unterstützen.

Situation in Syrien unklar

Noch sei unklar, ob die Hilfe für Syrien sowohl die von der Regierung als auch die von ihren Gegnern gehaltenen Gebiete erreiche. In der syrischen Stadt Aleppo fanden die Suchteams zuletzt nach Informationen der dpa keine Überlebenden mehr. Aus dem Gebiet dringen nach wie vor nur spärlich Informationen. Nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) muss die Hilfe für Syrien deutlich ausgeweitet werden.

Rettungseinsatz in syrischer Stadt Jableh
APA/AFP/Karim Sahib
Informationen über die Hilfsaktionen in Syrien sind spärlich

Das Welternährungsprogramm der UNO hatte zuvor gewarnt, dass seine Lagerbestände im Nordwesten Syriens zur Neige gingen. 90 Prozent der Bevölkerung sind dort auf humanitäre Unterstützung angewiesen. Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen will auch die Hilfsorganisation Jugend Eine Welt ihre Aktivitäten im Krisengebiet verstärken.