Menschen vor eingestürzten Häusern in türkischer Stadt Antakya
AP/Petros Giannakouris
Leichen und Hygiene

Gefahr von Krankheiten in Bebengebieten

In den türkisch-syrischen Bebengebieten wächst die Gefahr von Krankheiten. Die Hygieneverhältnisse verschlechterten sich zusehends, so die Warnung des Roten Kreuzes. Auch nicht geborgene Leichen könnten das Grundwasser verunreinigen. Die UNO befürchtet, dass die Zahl von derzeit mehr als 35.000 bestätigten Todesopfern noch dramatisch steigen könnte.

Laut dem Experten des Emergency WASH (Wasser Sanitär Hygiene) des Österreichischen Roten Kreuzes, Georg Ecker, ist das Wasserversorgungs- und Entsorgungssystem im Erdbebengebiet schwer beeinträchtigt. Daher sind die Menschen von Oberflächenwasser – wie Flüssen und Seen – abhängig, die wiederum durch Fäkalien verunreinigt sind, weil die Menschen aufgrund der zerstörten Gebäude keine Sanitäreinrichtungen haben.

Zudem könnten Grundwassersysteme verschoben oder unterbrochen sein, so Ecker. Es bestehe daher die Gefahr der Kontamination von Grundwasser – auch durch nicht geborgene Leichen. Wenn Menschen keine Alternative haben, als verunreinigtes Wasser zu trinken, könne das rasch zu Krankheiten führen. In Syrien gebe es seit längerer Zeit immer wieder Choleraausbrüche, und dadurch könne es sein, dass sich die Situation aufgrund der schlechten Hygieneverhältnisse verschlechtert bzw. bestehe aufgrund des Grenzgebietes ein Risiko, dass die Cholera auch in die Türkei übersetzt.

Menschen sitzen inmitten von Trümmern eingestürzter Häuser in türkischer Stadt Hatay
IMAGO/Depo Photos/Zulkif Yildirim
Müll, Schutt und nicht geborgene Leichen gefährden das Grundwasser

Menschenrechtler sind über Misshandlungen besorgt

Sorgen bereiten auch Berichte über mutmaßliche Misshandlungen im Erdbebengebiet. „Es kursieren viele schockierende Bilder von Polizisten und Zivilisten, die solche Personen verprügeln und brutal behandeln, die nach dem Beben Gebäude geplündert haben sollen“, schrieb die Türkei-Expertin der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW), Emma Sinclair-Webb, am Sonntag auf Twitter.

Innen- und Justizministerium hätten die Pflicht, sowohl mutmaßliche Diebe festzunehmen, als auch solche, die Menschen verprügelten. Die Anwaltskammer von Diyarbakir schrieb auf Twitter, Berichte über solche Misshandlungen nähmen besorgniserregende Ausmaße an. Rechtliche Schritte müssten eingeleitet werden. Zuvor waren nicht verifizierte Videos in den sozialen Netzwerken aufgetaucht, die zeigen sollen, wie mutmaßliche Plünderer geschlagen werden.

Die Tageszeitung „BirGün“ berichtete, zwei Männer aus Hatay hätten angegeben, von Sicherheitskräften geschlagen worden zu sein, nachdem sie fälschlicherweise für Plünderer gehalten worden waren. Sie hätten aber lediglich Medikamente für ihre Familien besorgen wollen. Das Onlinemedium Diken berichtete, in Adiyaman seien fünf freiwillige Helfer misshandelt worden. Die Berichte konnten nicht unabhängig überprüft werden.

Stadium mit provisorischen Unterkünften in türkischer Stadt Kahramanmaras
IMAGO/Depo Photos/Cem Bakirci
Auch Stadien wie hier in Kahramanmaras wurden zu Notunterkünften umfunktioniert

Sicherheitslage ist angespannt

In den Erdbebengebieten ist die Situation Augenzeugen zufolge angespannt, nach Regierungsangaben kam es zu Plünderungen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sagte, dass in einigen Teilen des Landes der Ausnahmezustand verhängt worden sei. Menschen, die Märkte plünderten oder Geschäfte angriffen, sollten so leichter bestraft werden können.

Bundesheertruppe kehrt nach Österreich zurück

Unterdessen geht der Einsatz der österreichischen Soldaten und Soldatinnen, die bei der Bergung Verschütteter geholfen haben, dem Ende zu. „Bis heute Mittag stehen die Soldaten für etwaige Suchaufträge noch bereit, dann beginnt der Rückmarsch zum Flughafen Adana“, schrieb Bundesheersprecher Michael Bauer Montagfrüh auf Twitter.

Neun Menschen aus Trümmern geborgen

Laut Bauer wurde die Truppe der „Austrian Forces Disaster Relief Unit“ (AFDRU) am Sonntag zu keinem Einsatz mehr angefordert. Seit Dienstag sind 82 Soldaten und Soldatinnen in der Türkei. Ursprünglich war die Rückkehr für Donnerstag geplant. Den Helfern gelang die Bergung von neun Personen aus den Trümmern.

Wegen der schwierigen Sicherheitslage mussten mehrere Rettungskräfte ihren Einsatz zeitweise unterbrechen – darunter auch das österreichische Bundesheer. „Es gibt zunehmend Aggressionen zwischen Gruppierungen in der Türkei. Es sollen Schüsse gefallen sein“, sagte Oberstleutnant Pierre Kugelweis der APA. Türkische Sicherheitskräfte übernahmen zwischenzeitlich den Schutz der österreichischen Truppe.

Frau und Bub gerettet

Laut der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD sind mehr als 32.000 Menschen aus der Türkei an Such- und Rettungseinsätzen beteiligt. Hinzu kommen mehr als 8.200 internationale Helferinnen und Helfer. Trotz schwindender Hoffnungen gelingt es den Rettungskräften aber auch fast eine Woche nach der Katastrophe immer wieder, Menschen lebend aus den Trümmern zu retten.

Trümmer in Kahramanmaras
Reuters/Stoyan Nenov
Trotz schwindender Hoffnung wird die Suche nach Überlebenden fortgesetzt

Sechs Tage nach dem Beben bargen Einsatzkräfte aus El Salvador zusammen mit einheimischen Helfern im Süden der Türkei einen kleinen Buben und eine junge Frau lebend aus den Trümmern. Der etwa fünfjährige Bub und die etwa 30 Jahre alte Frau seien mehr als 150 Stunden unter einem eingestürzten Gebäude eingeschlossen gewesen, teilte der salvadorianische Präsident Nayib Bukele am Sonntag per Twitter mit.

163 Stunden in Trümmern überlebt

Noch später – nach 163 Stunden unter Trümmern – befreiten Rettungsteams in der Provinz Hatay unter anderen einen siebenjährigen Buben und eine 62-Jährige, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu in der Nacht auf Montag berichtete.

Zuvor wurde in Antakya ein fünf Monate altes Baby nach 134 Stunden lebend aus den Trümmern geholt, berichtete der staatliche türkische Fernsehsender TRT. Auf Fernsehbildern war zu sehen, wie ein Helfer kopfüber in ein metertiefes Loch hinabgelassen wurde, um zu dem Säugling zu gelangen. Das sichtlich entkräftete Kind wurde nach seiner Befreiung an Rettungssanitäter übergeben. In der Stadt Kahramanmaras wurde ein neun Jahre alter Bub nach rund 120 Stunden lebend geborgen, in Hatay eine 63-Jährige nach 157 Stunden und in Gaziantep Montagfrüh eine 40-Jährige nach 170 Stunden.

Überlebende schildert Tage unter Trümmern

Gegenüber der BBC schilderte eine 33-jährige Frau, die mit ihrem wenige Tage alten Sohn nach vier Tagen aus den Trümmern geborgen worden war, ihre Erfahrungen. Ihr Mann – er hielt sich mit dem zweiten Sohn im Nebenraum auf – habe noch versucht, zu ihr zu kommen, als die Erdstöße einsetzten, ein Kasten sei aber auf die beiden gefallen.

„Als das Beben stärker wurde, stürzte die Wand ein, und der Raum wackelte, und das Gebäude bewegte sich. Als es vorbei war, hatte ich nicht bemerkt, dass ich ein Stockwerk nach unten gefallen waren. Ich schrie ihre Name, aber es kam keine Antwort“, so die 33-Jährige, die mit dem Baby in ihren Armen auf dem Boden lag und die Angst schilderte, möglicherweise nie gefunden zu werden.

Ein umgestürzter Kasten verhinderte, dass ein großer Betonbrocken auf sie stürzte. Die beiden verharrten laut BBC vier Tage in dieser Position, bis sie schließlich gerettet wurden. Ihr Mann und der zweite Sohn waren zuvor bereits aus den Trümmern gerettet worden.

Zahl der Toten steigt unaufhörlich

Die Zahl der bestätigten Todesopfer stieg unterdessen auf mehr als 37.500 an. In der Türkei wurden nach Behördenangaben 31.643 Todesopfer bestätigt. Aus Syrien wurden zuletzt 5.900 Tote gemeldet. Wie der Nothilfekoordinator der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Richard Brennan, am Sonntag sagte, kam die Mehrzahl davon (4.500) in den Rebellengebieten ums Leben. Laut Schätzungen der UNO könnte die Opferzahl auf über 50.000 steigen.

Die WHO geht davon aus, dass 26 Millionen Menschen in der Türkei und Syrien von der Katastrophe betroffen sein könnten, darunter etwa fünf Millionen, die ohnehin als besonders schutzbedürftig gelten. Mindestens 870.000 Menschen in beiden Ländern müssen nach Angaben der UNO mit warmen Mahlzeiten versorgt werden, bis zu 5,3 Millionen könnten allein in Syrien obdachlos geworden sein.

Dutzende Haftbefehle wegen Baumängeln

Der türkische Vizepräsident Fuat Oktay sagte, die Staatsanwaltschaften hätten auf Anweisung des Justizministeriums in zehn Provinzen, die von den Erdbeben betroffen waren, Abteilungen für die Untersuchung von Verbrechen im Zusammenhang mit den Erdbeben eingerichtet. Ermittelt worden seien 131 Menschen, die für eingestürzte Gebäude verantwortlich seien.

Dutzende Haftbefehle wegen Baumängeln

Zigtausende Gebäude sind im türkisch-syrischen Bebengebiet eingestürzt. Dass die Erschütterungen so zerstörerisch waren, könnte auch auf menschliches Versagen zurückzuführen sein. Inzwischen wurden Dutzende Haftbefehle wegen Baumängeln erlassen.

Am Sonntag gab es eine Festnahme von einem Bauunternehmer, der für die Bauleitung zahlreicher eingestürzter Gebäude in Adiyaman verantwortlich gewesen sein soll. Er sei mit seiner Ehefrau am Istanbuler Flughafen gefasst worden, meldete die Nachrichtenagentur DHA am Sonntag. Die beiden hätten sich mit einer großen Menge Bargeld nach Georgien absetzen wollen. Zuvor waren schon 14 Verdächtigte verhaftet worden, gegen 113 weitere seien Haftbefehle erlassen worden, so Oktay.

Türkei-Korrespondentin Katharina Wagner zu laufenden Ermittlungen

In der Türkei wurden jetzt Baumeister und Unternehmer verhaftet. Haben weder Wirtschaft noch Politik aus früheren Katastrophen wie etwa 1999 etwas gelernt? Katharina Wagner berichtet über die laufenden Ermittlungen.

Der türkische Städteminister Murat Kurum sagte, mittlerweile seien knapp 172.000 Gebäude in zehn Provinzen überprüft worden. Festgestellt worden sei, dass rund 25.000 schwer beschädigt worden seien oder dringend abgerissen werden müssten. Es werden weitere Verhaftungen erwartet.

Korruption und Nachlässigkeit der Behörden

Von vielen wird die Aktion auch als Versuch angesehen, von der Gesamtschuld an der Katastrophe abzulenken, berichtete die BBC am Sonntag. Die Opposition sieht Präsident Erdogan in der Verantwortung und wirft ihm vor, es in seiner 20-jährigen Regierungszeit versäumt zu haben, das Land auf ein solches Beben vorzubereiten. Bei den im Mai anstehenden Wahlen könnte die Katastrophe eine entscheidende Rolle dabei spielen, ob er sich im Amt halten kann.

Nach dem großen Erdbeben von 1999 in der Türkei mit knapp 18.000 Toten hatte die Regierung die Baugesetze zwar verschärft, seit Jahren warnen Expertinnen und Experten aber vor Versäumnissen der Behörden. Viele alte Gebäude seien trotz entsprechender Regularien nicht erdbebensicher saniert worden, kritisierte unlängst Nusret Suna von der Bauingenieurskammer. Selbst Gebäude, die nach 1999 gebaut wurden, seien oft nicht sicher. Korruption und die Nachlässigkeit der Behörden hätten das begünstigt. Häufig sei ein Auge zugedrückt worden, um einen Bauboom zu fördern – auch in erdbebengefährdeten Regionen.

Oya Özarslan von der Organisation Transparency International in der Türkei, die sich mit Korruption beschäftigt, schilderte ähnliche Probleme. Und der ehemalige Vorsitzende der Bauingenieurskammer, Cemal Gökce, erzählte von der gängigen Praxis: „Ein Grundproblem in der Türkei ist, dass auf vorschriftsmäßig gebaute Gebäude illegale Stockwerke gesetzt werden, ohne auf Vorschriften zu achten.“ Diese Probleme seien aber nicht erst unter Erdogan aufgetreten, so Gökce.

Einsatz der Weißen Helme in syrischer Stadt Jandaris
Reuters/Khalil Ashawi
In Syrien geht die Hilfe nur schleppend voran

„Menschen in Syrien im Stich gelassen“

Die UNO räumte unterdessen Versäumnisse bei der Hilfe für die Opfer im syrischen Bebengebiet ein. „Wir haben die Menschen im Nordwesten Syriens bisher im Stich gelassen“, schrieb UNO-Nothilfekoordinator Martin Griffiths am Sonntag auf Twitter. Ein UNO-Konvoi mit zehn Lastwagen hatte Syrien am Donnerstag aus der Türkei erreicht, doch ist laut Griffiths viel mehr Hilfe nötig. 5,3 Millionen Menschen könnten in Syrien durch das Beben obdachlos geworden sein.

Erschwert wird die Hilfe durch die Sicherheitslage im Bürgerkriegsland. Eine geplante Lieferung von Hilfsgütern aus Regierungsgebieten in die Provinz Idlib sei gestoppt worden, erfuhr die dpa aus Regierungskreisen am Sonntag. Die vom Syrischen Roten Halbmond zur Verfügung gestellten Güter sollten demnach über den Ort Sarakib nach Idlib geliefert werden. Aktivisten zufolge blockierte die Miliz HTS, die das Gebiet dominiert, diese Lieferung aber.

WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus berichtete, dass der syrische Machthaber Baschar al-Assad die Öffnung weiterer Grenzübergänge für Hilfslieferungen in die Rebellengebiete erwäge. Assad habe seine Bereitschaft angedeutet, „zusätzliche grenzüberschreitende Zugangspunkte für diesen Notfall in Betracht zu ziehen“, sagte Tedros nach einem Treffen mit Assad am Sonntag in Damaskus.