Blick auf Tunis
Getty Images/Digital Vision/Tuul & Bruno Morandi
Verhaftungswelle

Wachsende Sorge um Tunesiens Demokratie

Zwölf Jahre nach dem „arabischen Frühling“, mit dem der Übergang zur Demokratie gelungen ist, schlägt Tunesien wieder einen autoritären Weg ein. Präsident Kais Saied verschärfte in den vergangenen Tagen den Kurs gegen seine Kritiker, die Polizei nahm einige prominente Oppositionelle fest. Seit 2021 zementiert Saied seine Macht – und sägt damit an der letzten Demokratie Nordafrikas.

Die größte Oppositionspartei des Landes, die gemäßigt-islamistische Ennahdha, sprach von einer „Entführung von Saieds Gegnern“: Seit Samstag wurden mehrere bekannte Gegner Saids festgenommen, zuletzt mit Noureddine Bhiri einen der führenden Ennahdha-Vertreter.

Doch die Verhaftungen gehen über direkte politische Gegner hinaus, es ist eine breite Liste an Menschen, die sich gegen Saied ausgesprochen oder Proteste gegen ihn mobilisiert hatten. So wurden etwa auch ein Unternehmer, der Chef eines Radiosenders, ein ehemaliger Finanzminister sowie Richter und Diplomaten festgenommen. Ihre Anwälte sagen, sie wurden wegen des Verdachts des „Angriffs auf die Staatssicherheit“ verhaftet.

„Arabischer Frühling“ verblasst

Tunesien galt seit Beginn des „arabischen Frühlings“ 2011 als Hoffnungsträger für eine Demokratisierung der Region. Am 14. Jänner 2011 wurde der autokratisch regierende Präsident Zine al-Abidine Ben Ali abgesetzt, für viele der Beginn einer demokratischen Revolution. Doch die Fortschritte werden jetzt nach und nach rückgängig gemacht.

der tunesische Präsident Kais Saied
AP/Johanna Geron
Saied baute seine Macht deutlich aus

Saied, der 2019 gewählt wurde, weitete seine Kompetenzen in den vergangenen Jahren kontinuierlich aus. 2021 entmachtete er die Regierung und das Parlament und berief sich dabei auf Notstandsgesetze. Damals sagte er, politischer Stillstand, Korruption, Wirtschaftskrise und die Pandemie erforderten einen kompletten Neustart, schreibt die Deutsche Welle.

Doch dieser Neustart ging mit einer Verfassungsänderung einher, die Saied praktisch im Amt zementierte. So kann er etwa auch ohne Zustimmung des Parlaments die Regierung und den Ministerpräsidenten entlassen, umgekehrt können die Abgeordneten den Präsidenten nicht mehr absetzen. Auch in die Justiz kann er direkt eingreifen und etwa die Ernennung von Richtern blockieren. Saied selbst will nichts von einem Putsch wissen und sagte stets, er wolle damit „Chaos“ verhindern – doch Tunesien ist weit von Ruhe entfernt.

Parlamentswahl wurde zur Farce

Denn die Stimmung hat sich gedreht: Viele einstige Unterstützer Saieds wehren sich nun gegen den Präsidenten. Erst im Jänner gingen Tausende Menschen in der Hauptstadt Tunis auf die Straße und protestierten gegen Saieds Regierung.

Protest gegen Präsident Kais Saied in Tunis
Reuters/Zoubeir Souissi
Proteste gegen Saied wie hier im Dezember gab es in letzter Zeit häufiger

Ausgerechnet die letzte Parlamentswahl geriet zur Farce, bei der zweiten Runde Ende Jänner gaben nur 11,3 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab, die niedrigste Wahlbeteiligung seit dem „arabischen Frühling“. Die Opposition rief zum Boykott auf, weil das Parlament ohnehin kaum noch Macht habe. Die niedrige Beteiligung ist zweifellos auch Ausdruck der Enttäuschung der Tunesierinnen und Tunesier.

Krisen wirkten sich auf Lebensstandard aus

Während Saied anfangs für seinen autoritären Kurs noch Unterstützung erhielt – stillschweigend selbst von der Opposition und dem mächtigen Gewerkschaftsbund UGTT –, ist davon jetzt nichts mehr übrig. Das Versprechen Saieds, die Zustände in dem Land zu verbessern, bewahrheiteten sich nicht, die globalen Krisen verschlechterten die Situation zusätzlich.

Die Inflation liegt bei über zehn Prozent, die Bevölkerung litt aber schon davor an den Folgen einer Wirtschaftskrise – zusätzlich befeuert durch die Pandemie und den Krieg in der Ukraine. Denn Tunesien ist stark von Öl- und Getreideimporten abhängig, wie die Nachrichtenagentur AFP schreibt.

Mehr und mehr Menschen machen sich deshalb auf den Weg nach Europa, um dort Arbeit und eine Perspektive zu finden. Tunesiens Führung setzt derzeit einzig auf Hilfe in Form eines Milliardenkredits des Internationalen Währungsfonds (IWF), um einen Staatsbankrott des Landes abzuwenden. Die Staatsverschuldung liegt bei mehr als 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Hoffnung auf vereinte Opposition

Erschwert wird die Situation im Land auch dadurch, dass sowohl Saieds Unterstützer als auch die Opposition komplett zersplittert sind. „Das Hauptmerkmal der politischen Szene ist derzeit ein hohes Maß an Zersplitterung“, so der tunesische Politologe Mohamed-Dhia Hammami gegenüber der Deutschen Welle. „Das wird jede Art von Stabilisierung – ob demokratisch oder autokratisch – nahezu unmöglich machen.“

Aktivisten hoffen, dass sich die Opposition auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen kann, der gegen Saied antritt. Die Tunesien-Expertin Monica Marks sagte gegenüber der Deutschen Welle, noch sei „keine kritische Masse erreicht“, was die Opposition anbelangt. Die Präsidentschaftswahl ist regulär für 2024 angesetzt – und könnte, so sich der autokratische Kurs Saieds nicht weiter verschärft, zum Wendepunkt für Tunesien werden.