Komponist Friedrich Cerha
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1926–2023

Friedrich Cerha ist tot

Nach Jahrzehnten des produktiven Schaffens war Friedrich Cerha der unangefochtene Doyen der österreichischen Avantgardemusik. Nun ist der Komponist, Dirigent, Interpret und Wissenschaftler am Dienstag im Alter von 96 Jahren in Wien verstorben.

Geboren wurde Cerha am 17. Februar 1926 in Wien. Der musikalisch begabte Bub begann bereits im Alter von sechs Jahren, Geige zu spielen. Die ersten Kompositionen folgten nur zwei Jahre später, und auf eigene Initiative erhielt er Unterricht in Harmonielehre und Kontrapunkt. 1943, noch vor Abschluss des Gymnasiums, wurde Cerha zur Wehrmacht eingezogen. Der erklärte Gegner des NS-Regimes desertierte allerdings und flüchtete auf eine Tiroler Almhütte.

Nach dem Krieg studierte er an der Wiener Hochschule für Musik und darstellende Kunst Komposition bei Alfred Uhl und Violine bei Vasa Prihoda sowie Musikerziehung. Der promovierte Germanist pflegte auch Kontakte zu dem von avantgardistischen Malern und Literaten dominierten „Art Club“. Ab 1959 lehrte Cerha an der Wiener Musikhochschule, von 1976 bis 1988 auch als Professor für Komposition, Notation und Interpretation neuer Musik.

Komponist Friedrich Cerha
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Cerha 1977, am Höhepunkt seines Schaffens als Dirigent

Affinität zu Berg, Webern, Schönberg

1958 entstand das von Cerha mitbegründete Ensemble die reihe, das als Kammerensemble für Neue Musik mit exemplarischen Aufführungen gegen die in Österreich herrschende Ödnis in Bezug auf die Musik des 20. Jahrhunderts anspielte und damit einem großen Publikum zeitgenössische Kompositionen nahebrachte.

Nicht zuletzt wurde in dieser Zeit Cerhas Affinität zur zweiten Wiener Schule um Berg, Webern und Schönberg geschärft. Eine Folge davon war die Fertigstellung von Alban Bergs Opernfragment „Lulu“, das von Cerha um den dritten Akt ergänzt und 1979 von Pierre Boulez in Paris uraufgeführt wurde.

Durchbruch mit Brecht-Oper

Bis zur ersten wirklich eigenen Oper „Baal“ sollten noch Jahre vergehen. Das Werk nach einem Drama von Bertolt Brecht brachte endgültig den internationalen Durchbruch für Cerha und wurde 1981 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt. Daneben gehören vor allem die (semi-)musikdramatischen Werke „Spiegel“ und „Netzwerk“ sowie die Literaturoper „Die Rattenfänger“ nach Carl Zuckmayer zu seinen bekanntesten Kompositionen. Cerha kompnierte mit Vorliebe Werke für große Orchesterbesetzung, die stilistisch weiterhin auf dem Boden der zweiten Wiener Schule wurzeln.

Statt Anerkennung schlug Cerha zu Beginn seiner Komponistenlaufbahn immer wieder auch Ablehnung entgegen, etwa für den „Spiegel“-Zyklus. „Nach den ersten Aufführungen wurde das als intellektuelles Experiment, als Kopfmusik bezeichnet“, sagte er 2013 in einem Gespräch mit seinem Musikverlag, der Universal Edition. In Wirklichkeit sei das Werk aus „einem elementaren Ausdrucksbedürfnis“ entstanden und habe ihm geholfen, sich von seinen Kriegserlebnissen zu befreien, sagte er.

Zahlreiche Opern in späten Jahren

Schon Jahrzehnte vor seinem Tod stand der Komponist selbst nicht mehr am Pult, von vereinzelten Auftritten wie 2007 im Rahmen der Wiener Festwochen mit dem Klangforum und anlässlich des Festkonzertes zu 50 Jahre die reihe abgesehen. Das Dirigieren hatte er da bereits zugunsten seines kompositorischen Schaffens zurückgestellt.

Komponist Friedrich Cerha
APA/Herbert Neubauer
Cerha 2021 im Rahmen der Verleihung des „Alban Berg Ringes“ im Wiener Musikverein

Und die Ergebnisse sind umfangreich: 2002 wurde die in Zusammenarbeit mit Peter Turrini entstandene Oper „Der Riese vom Steinfeld“ an der Wiener Staatsoper uraufgeführt, 2004 folgte mit Cerhas Requiem sein „Opus summum“. Beim steirischen herbst gab es 2007 die Uraufführung des Konzerts für Bariton und Orchester, „Aderngeflecht“, dessen Text auf Gedichten von Emil Breisach basiert, im selben Jahr erklang „Les Adieux“ erstmals bei der Biennale in Venedig.

TV-Hinweis

Am Sonntag zeigt ORF2 um 10.15 die Doku „Friedrich Cerha – So möchte ich auch fliegen können“.

Mit Preisen „ausdekoriert“

2010 kam „Like a Tragicomedy“ in Manchester zur Aufführung, 2013 stand mit „Onkel Präsident“ die Uraufführung einer Komischen Oper im Münchner Prinzregententheater auf dem Spielplan. Im selben Jahr erklang bei den Salzburger Festspielen erstmals sein „Etoile für 6 Schlagzeuger“, 2016 schließlich „Eine blassblaue Vision“.

Beinahe so zahlreich wie seine Werke waren auch die Auszeichnungen, die Cerha im Laufe seines Lebens erhielt: Für seine kompositorische Arbeit wurden ihm unter anderem der Preis der Stadt Wien (1974) und der Große Österreichische Staatspreis (1986) verliehen. Das Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst folgte 2005, im Jahr darauf wurde er bei der Musik-Biennale in Venedig mit dem erstmals vergebenen Goldenen Löwen für ein Lebenswerk geehrt.

2008 folgte das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien, 2011 der Musikpreis Salzburg und 2012 mit dem Ernst-von-Siemens-Musikpreis die wohl renommierteste Auszeichnung ihrer Art, die mit 250.000 Euro dotiert ist. Cerha sei praktisch „ausdekoriert“, wie der damalige niederösterreichische Landeshauptmann Erwin Pröll (ÖVP) zum 90. Geburtstag des Jubilars mit Augenzwinkern anmerkte.

Komponist Friedrich Cerha ist tot

Der Komponist, Dirigent und Geiger Friedrich Cerha ist im Alter von 96 Jahren in Wien verstorben. Seine Vollendung der Oper „Lulu“ hatte für Aufregung gesorgt.

„Musikgeschichte nachhaltig beeinflusst“

Zahlreiche Trauerbekundungen folgten der Nachricht auf Cerhas Tod. Tief betroffen zeigte sich etwa Staatsoperndirektor Bogdan Roscic: „Ausgetretenen Pfaden zu folgen war Cerhas Sache nicht. Das Ausprobieren und Austesten neuer Ideen machen sein Oeuvre so lebendig und bezwingend“, so der Direktor in einer Aussendung. Cerha habe nicht nur die internationale Musikgeschichte mitgeschrieben und sie nachhaltig beeinflusst, sondern auch die Aufführungsgeschichte der Wiener Staatsoper immer wieder mit Höhepunkten bereichert.

Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer (Grüne) würdigte Cerha als „einen der größten Komponisten der Moderne“. Als 1926 Geborener habe er „uns bewusst gemacht, wie sehr die Neue Musik den demokratischen Geist als Voraussetzung braucht, um sich entfalten zu können. Sein Lebensweg und künstlerisches Werk stehen leuchtend und unübersehbar für seinen persönlichen Mut zu einem Neuanfang in der Musik.“

„Mensch mit einer Haltung“

Auch die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) trauert um ihr Ehrenmitglied und ehemaligen Professor. „Friedrich Cerha war einer der bedeutendsten Komponisten unserer Zeit, der neue Maßstäbe in der Kunst gesetzt hat. Er war uns stets ein Vorbild als Künstler, als Lehrender und vor allem als Mensch mit einer Haltung, die zum Wohle unserer Demokratie unverhandelbar ist und sein muss“, so Rektorin Ulrike Sych. Zu Cerhas Schülern zählten unter anderen Karlheinz Essl und Georg Friedrich Haas.

Auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen äußerte sein Bedauern über das Ableben Cerhas: „Mit Friedrich Cerha ist heute der Doyen der zeitgenössischen Musik Österreichs von uns gegangen. Über Jahrzehnte prägte er das heimische Musikschaffen und setzte sich als geschätzter Lehrer für nachfolgende Generationen ein. Diesen großen Künstler werden wir nicht vergessen.“