Containerschiff an den Küsten Rio de Janeiros
IMAGO/Carlos Pinheiro/Carlos Pinheiro
Trotz Widerstands

Schlüsseljahr für Mercosur-Abkommen

Für den Mercosur-Handelspakt könnte 2023 zum Schlüsseljahr werden: In Brüssel sind die Hoffnungen auf einen Durchbruch mit Amtsantritt des neuen brasilianischen Präsidenten Luiz Inacio Lula da Silva groß, trotz anhaltender Bedenken hinsichtlich des Schutzes des Amazonas. Doch auch geopolitische Überlegungen stecken hinter den Bemühungen der EU, meinen Beobachterinnen und Beobachter. Wie stehen die Chancen auf eine Einigung tatsächlich?

„Viel besser als in der Vergangenheit“, lautet die Antwort des Handelsexperten Uri Dadush im ORF.at-Interview. Er nennt drei Gründe: die Wahl Lulas, die EU-Ratspräsidentschaft Schwedens und die darauffolgende Spaniens (beide Länder haben Interesse an einem Abschluss) sowie der Wunsch nach einer Diversifizierung der Märkte infolge der Coronavirus-Pandemie und des Ukraine-Krieges, so der Professor für internationale Handelspolitik an der University of Maryland und Experte des Brüsseler Thinktanks Bruegel.

Geht es nach der EU, dann soll es nach jahrelangem Tauziehen bis Juli zu einer Unterzeichnung des Freihandelsabkommens kommen. Die seit 1999 laufenden Verhandlungen mit dem Mercosur-Wirtschaftsraum – also Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay – lagen nach der Einigung auf einen Abkommenstext 2019 auf Eis. Geschuldet war das der fortschreitenden Abholzung des Regenwaldes unter dem damaligen rechtspopulistischen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro.

Brasiliens Präsident Luiz Inacio Lula da Silva
Reuters/Adriano Machado
Die EU setzt große Hoffnungen in den neu gewählten brasilianischen Präsidenten Luiz Inacio Lula da Silva

Österreich allein auf weiter Flur?

Doch mit der Abwahl Bolsonaros scheint auch in der EU der Widerstand gegen den Deal zu schwinden: Ein Besuchsreigen startete Anfang des Jahres, der erneute Bemühungen unterstrich. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz reiste nach Brasilien und Argentinien, der argentinische Außenminister Santiago Andres Cafiero machte wiederum in Brüssel Halt. Frankreich, das sich lange vehement gegen das Abkommen stellte, würde indes einlenken, berichtete „Politico“.

Das Mercosur-Abkommen würde die größte Freihandelszone der Welt mit rund 780 Millionen Menschen schaffen. Aus dem Abbau von Zöllen und Handelsschranken sollen beide Seiten Profit schlagen – die südamerikanischen Staaten vor allem mit dem Export von Lebensmitteln und Rohstoffen, die EU mit Autos und Industriegütern.

Österreich, das den Deal zur Bildung der größten Freihandelszone der Welt weiter verhindern will, reagierte auf all das verstimmt. „Mercosur ist ein Abkommen alter Schule, ohne ein umfassendes Nachhaltigkeitskapitel“, sagte Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig (ÖVP) in einem Interview mit der „Tiroler Tageszeitung“.

Differenzen gibt es aber auch auf der anderen Seite des Ozeans: Die Regierung Argentiniens will die Wirtschaft des Landes vor der internationalen Konkurrenz schützen, die Regierungen in Uruguay und Brasilien wollen hingegen Handelshemmnisse abbauen. „Wir werden versuchen, den Europäern zu zeigen, wie flexibel wir sind. Und wir wollen, dass die Europäer uns zeigen, wie flexibel sie sind“, unterstrich Lula die gemeinsame Position.

Lulas vollmundige Amazonas-Versprechen

Damit es zur Unterzeichnung kommt, müssten die EU- und Mercosur-Staaten aufeinander zugehen, sagt Dadush. Die Rede ist einerseits von Zugeständnissen an südamerikanische Unternehmen und andererseits von einem besseren Schutz der Umwelt – das heißt des Amazonas-Regenwaldes.

„Lula vertritt in Sachen Klimawandel und Abholzung des Amazonas – die er zu stoppen gelobte – eine ganz andere Position als Bolsonaro“, betont Dadush. Dem Amazonas kommt als CO2-Speicher eine große Bedeutung im globalen Kampf gegen die Klimaerwärmung zu. Befürchtet wird, dass steigende Fleischlieferungen zu mehr Rodungen für Weideflächen führen könnten. Mehr Brände und ein höherer CO2-Ausstoß wären die Folge. Zudem könnte die Umwelt weiter verschmutzt werden und zahlreiche Arten aussterben.

Mit der Ernennung der renommierten Amazonas-Aktivistin Marina Silva zur Umweltministerin – sie war auch schon in früheren Amtsperioden Lulas in dieser Funktion tätig – scheint der Linkspolitiker seinen Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen zu wollen. Betont wird auch immer wieder, dass das Abkommen tatsächlich zu besseren Umweltstandards in Südamerika führen soll.

Abgeholzter Regenwald in Manaus
Reuters/Bruno Kelly
Kritikerinnen und Kritiker sorgen sich weiterhin um die „grüne Lunge der Erde“ – den Amazonas-Regenwald

Greenpeace kritisiert zahnloses Umweltkapitel

NGOs wie Greenpeace, WWF und Attac zeigen sich davon unbeeindruckt und plädieren für einen Neustart der Verhandlungen. „Das EU-Mercosur-Abkommen in seiner jetzigen Form gehört zu einer überholten Handelspolitik des zwanzigsten Jahrhunderts“, sagte Roland Süß, Mitglied des Attac-Koordinierungskreises. „Es steht in seinen Kernelementen in direktem Widerspruch zu Klimaschutz, Ernährungssicherheit und Menschenrechten“, warnte er.

Das Umweltkapitel des Abkommens sei „extrem schwach bis hin zu wertlos“, heißt es von Greenpeace auf ORF.at-Anfrage. „Einerseits sind die Formulierungen vage und meistens unverbindlich. Aber noch wichtiger: Das Umweltkapitel ist explizit vom Sanktionsmechanismus des Pakts ausgenommen. Verstößt ein Staat also gegen die Umweltklauseln im Vertrag, bleibt das mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit folgenlos.“

Grafik zu Mercosur-Staaten
Grafik: Map Resources/ORF.at

EU-Bauern mit Bauchweh

Bauchweh bereitet das Abkommen auf europäischer Seite auch den Bäuerinnen und Bauern, die sich vor einer Importflut an Billigfleisch fürchten. Mit Quoten und Kompensationen versucht die EU zu besänftigen. Tatsächlich ist etwa die jährliche Rindfleischeinfuhr mit einem verminderten Zollsatz von 7,5 Prozent auf 99.000 Tonnen beschränkt. Das ist in etwa ein Prozent der gesamten EU-Rindfleischproduktion. „Das hohe Niveau und die erstklassige Qualität europäischer Produkte dürfen unter keinen Umständen konterkariert werden“, hieß es zudem vom Handelsverband.

Die Haltung der Landwirte hält Dadush für „etwas ironisch“, sei Europa doch der weltweit größte Agrarexporteur. Darüber hinaus gibt es zum Schutz der Bauern eine Klausel, wonach die Handelsliberalisierungen unter Umständen ausgesetzt werden könnten. Der Kritik halten Befürworter des Deals – hierzulande in Form von Industriellenvereinigung, Wirtschaftskammer und NEOS – entgegen, dass das Abkommen Tausende Arbeitsplätze und mehr Wettbewerbsfähigkeit schaffe.

Zweigeteilter Deal? Empörung über Verfahrenstrick

Um das Abkommen allem Widerstand zum Trotz durchpeitschen zu können, könnte es in ein politisches und ein wirtschaftliches Kapitel geteilt werden („Splitting“). Und das sorgt für Empörung: „Damit würde beim umstrittenen Handelsteil die Einstimmigkeit im Rat der EU und die Notwendigkeit der Zustimmung aller Mitgliedsstaaten fallen. Infolgedessen würde auch der österreichische Nationalrat in einer derart weitreichenden Angelegenheit seine Entscheidungsrechte verlieren“, monierte die Arbeiterkammer etwa. Ähnliche Kritik kam hierzulande von Greenpeace und vom Landwirtschaftsministerium.

Noch sei dazu keine Entscheidung gefallen, teilt die Kommissionssprecherin Roberta Verbanac auf ORF.at-Anfrage mit. „Die Entscheidung über die Rechtsgrundlage wird von der Kommission nach rechtlicher Prüfung unter Berücksichtigung des Inhalts der Vereinbarung getroffen“, heißt es weiter.

China bringt EU unter Zugzwang

Dass die EU bei dem Abkommen Tempo macht, hängt letztlich mit bevorstehenden Wahlen in Argentinien im Herbst, in der EU 2024 und dem wachsenden Einfluss Chinas in Südamerika zusammen. Vor allem die chinesischen Bemühungen bringen die EU unter Zugzwang. Das Land der Mitte hatte im vergangenen Jahr ein Handelsabkommen mit Uruguay vorangetrieben.

„Es erhöht den Anreiz für die Europäische Union, den Deal mit dem Mercosur abzuschließen“, sagt der Bruegel-Experte Dadush. War einst noch die EU der wichtigste Exportmarkt für den Mercosur, so ist es heutzutage China. Und die USA? Die schauen bei all dem derzeit nur zu, sagt der Experte.