Zerstörte Häuser in Harem
Reuters/Mahmoud Hassano
WHO zu Erdbeben

Größte Naturkatastrophe seit 100 Jahren

Mehr als eine Woche ist vergangen, seit das schwere Erdbeben das türkisch-syrische Grenzgebiet verwüstet hat. Doch noch immer ist das wahre Ausmaß unklar, wie der Europadirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Hans Kluge, am Dienstag betonte. „Wir sind Zeugen der schlimmsten Naturkatastrophe in der WHO-Europaregion seit einem Jahrhundert“, so Kluge. Die Opferzahl stieg inzwischen auf über 40.000.

Kluge hob bei einer Pressekonferenz in Kopenhagen hervor, dass das ganze Ausmaß der Schäden in der Erdbebenregion noch gar nicht feststehe. Zur WHO-Region Europa gehören 53 Länder, darunter die Türkei sowie einige zentralasiatische Länder. „Jetzt ist die Zeit für die internationale Gemeinschaft, dieselbe Großzügigkeit zu zeigen, die die Türkei im Laufe der Jahre anderen Nationen weltweit gezeigt hat“, so Kluge. Das Land beherberge die größte Flüchtlingsbevölkerung der Erde.

Kluge würdigte auch die Arbeit der „heldenhaften“ türkischen Hilfsteams, die in einem Rennen gegen die Zeit rund um die Uhr im Einsatz seien und auch nach vielen Tagen noch Menschen in den Trümmern fänden. „Wir sind von ihnen inspiriert und ziehen Stärke aus ihren Anstrengungen“, sagte er. Zugleich forderte er alle Beteiligten von der Regierung und der Zivilgesellschaft zur Zusammenarbeit auf, um die grenzüberschreitende Lieferung humanitärer Hilfe zwischen der Türkei und Syrien sowie innerhalb Syriens sicherzustellen.

Helfer berichten über Erbebenkatastrophe

Über das gewaltige Ausmaß der Erdbebenkatastrophe im türkisch-syrischen Grenzgebiet berichteten am Dienstag Österreicherinnen und Österreicher, die am Hilfseinsatz dort teilgenommen haben.

Die Organisation geht mittlerweile davon aus, dass 26 Millionen Menschen in der Türkei und Syrien von der Katastrophe betroffen sein könnten, darunter etwa fünf Millionen Menschen, die ohnehin als besonders schutzbedürftig gelten.

Angst vor Rückkehr nach Hause

Das UNO-Kinderhilfswerk (UNICEF) geht davon aus, dass auch mindestens sieben Millionen Kinder betroffen sind, wie der Sprecher der Organisation, James Elder, in Genf am Dienstag sagte. „Viele tausend“ Kinder seien zudem ums Leben gekommen, zahlreiche Kinder hätten zudem ihre Eltern verloren. „In der Türkei lebten in den zehn vom Erdbeben betroffenen Provinzen insgesamt 4,6 Millionen Kinder. In Syrien sind 2,5 Millionen Kinder betroffen“, so Elder. Er verwies auf die weiter steigende Zahl von Todesopfern und sagte, die endgültige Opferzahl werde „unvorstellbar“ sein.

Familien mit Kindern schliefen „auf der Straße, in Einkaufszentren, Schulen, Moscheen, Busbahnhöfen und unter Brücken“ und hielten sich auf offenen Flächen auf, weil sie Angst hätten, nach Hause zu gehen, sagte der Sprecher. Die Temperaturen seien beißend kalt, und immer mehr Kinder litten an Unterkühlung und Atemwegsinfektionen.

Rotes Kreuz: Viele Anfragen bei Suchdienst

Seit dem Beben in der Türkei gehen beim Suchdienst des Roten Kreuzes viele Meldungen ein. Vor allem syrische Flüchtlinge in Österreich suchen ihre Verwandten im Erdbebengebiet.

Nur noch wenige Berichte zu Überlebenden

Die Hoffnung, weitere Überlebende zu finden, schwindet von Minute zu Minute. „Die Rettungsphase, bei der Menschen lebend aus den Trümmern gezogen (…) werden, neigt sich dem Ende zu“, sagte UNO-Nothilfekoordinator Martin Griffiths am Montag in Aleppo.

Am Dienstag gab es noch Medienberichte über drei Menschen, die in der Türkei lebend aus den Trümmern geborgen wurden. In der Provinz Kahramanmaras hätten Helfer heute Früh zwei 17 und 21 Jahre alte Brüder gerettet, berichteten die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu und der Sender CNN Türk. Sie lagen 198 Stunden unter den Trümmern. In der Provinz Adiyaman wurde ein 18-Jähriger, der ebenfalls 198 Stunden verschüttet war, gerettet. Unabhängig überprüfen ließen sich die Angaben nicht.

Schlimmste Katastrophe in Europa seit Jahren

Das Europabüro der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat zu umfassender Hilfe für die vielen Erdbebenopfer im türkisch-syrischen Grenzgebiet aufgerufen. Der Bedarf sei riesig und wachse mit jeder Stunde, sagte WHO-Regionaldirektor Hans Kluge. „Wir erleben die schlimmste Naturkatastrophe in der WHO-Region Europa seit einem Jahrhundert“, sagte Kluge über das Erdbeben, bei dem Zehntausende Menschen ums Leben gekommen sind.

Mehr als 40.000 Todesopfer

Das Erdbeben der Stärke 7,8 hatte sich am Montag vergangener Woche ereignet und zahlreiche Gebäude zum Einsturz gebracht. Am Dienstag wurde die Zahl der Todesopfer insgesamt mit mehr als 40.000 beziffert. Alleine in der Türkei liege die Zahl bei 35.418, sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu zufolge. Aus Syrien wurden zuletzt 5.900 Tote gemeldet. Unter den Trümmern in der Erdbebenregion sind aber immer noch Menschen verschüttet.

Die schweren Beben haben nach Daten von Satelliten womöglich auch langfristige geologische Folgen. „In der (türkischen Anm.) Küstenstadt Iskenderun scheint es erhebliche Absenkungen gegeben zu haben, die zu Überschwemmungen geführt haben, während das Beben viele Hügel im ganzen Land einem ernsthaften Erdrutschrisiko ausgesetzt hat“, hieß es von der Europäischen Weltraumorganisation (ESA).

Nothilfe auch aus Österreich

„Das Leid der Menschen ist unbeschreiblich“, berichtete der Koordinator für Humanitäre Hilfe von Hilfswerk International, Heinz Wegerer, am Dienstag in Wien über die Situation im Krisengebiet. Er kehrte am Montag aus der Türkei nach Österreich zurück. „Der Leichengeruch wird immer stärker“, sagte der Nothelfer.

Zerstörte Häuser in Kahramanmaras
Reuters/Issam Abdallah
In der Provinz Kahramanmaras retteten Helfer am Dienstag noch zwei Brüder

Die österreichische Organisation Hilfswerk International leistet in der schwer betroffenen Provinz Hatay Nothilfe. „Was ich dort gesehen habe, was ich dort miterlebt habe, ist schwer oder gar nicht in Worte zu fassen“, berichtete er betroffen. Die verzweifelte Situation der Bevölkerung im Erdbebengebiet gehe ihm sehr nahe. In Iskenderun gibt es beispielsweise „vier parallele Straßenzüge, wo links und rechts sämtliche Gebäude zerstört sind“, erzählte Wegerer. Nach wie vor liegen zahlreiche Vermisste unter den Trümmern, „vor den zerstörten Gebäuden sitzen Menschen und harren seit vergangenen Montag aus, sie hoffen auf ein Wunder“, sagte er.

Schnelle und unkomplizierte Hilfe sei nun dringend notwendig. In den ersten Tagen musste vor allem die lokale Bevölkerung den Großteil der humanitären Hilfe leisten. „Wir werden dafür sorgen, dass die Menschen die Hilfe aufrechterhalten können und einen langen Atem haben“, sagte Wegerer. Bis zu 50 Hilfswerk-Mitarbeiter sollen das in der Türkei sicherstellen. Wegerer berichtete auch von Problemen bei der Nothilfe. Die staatliche Katastrophenschutzbehörde AFAD „ist mit der Koordination offensichtlich überfordert“.

Syrien: Assad öffnet weitere Grenzübergänge

Zur Verbesserung der humanitären Hilfe in schwer zugänglichen Erdbebengebieten Syriens erklärte sich Machthaber Baschar al-Assad bereit, zwei weitere Grenzübergänge zur Türkei öffnen. Bab al-Salam und al-Rai sollten für drei Monate geöffnet werden, berichtete der UNO-Nothilfekoordinator dem Sicherheitsrat am Montag mehreren Diplomaten zufolge.

Über Bab al-Salam konnte am Dienstag bereits ein Hilfskonvoi der UNO einreisen. Ein AFP-Korrespondent beobachtete den Konvoi beim Grenzübertritt von der Türkei nach Syrien.

Zuvor konnten die Vereinten Nationen nur über einen Grenzübergang, den Übergang Bab al-Hawa, Hilfe in Gebiete liefern, die nicht von der Regierung kontrolliert werden. Der Nordwesten Syriens wird von verschiedenen Rebellengruppen kontrolliert.

Eine Grafik zeigt den Einfluss verschiedener Gruppen auf von dem Erdbeben betroffenen syrischen Gebieten
Grafik: ORF; Quelle: BBC/Janes

UNO fordert fast 400 Millionen Dollar für Syrien

UNO-Generalsekretär Antonio Guterres begrüßte die Entscheidung Assads. „Die Öffnung dieser Grenzübergänge – zusammen mit der Erleichterung des humanitären Zugangs, der Beschleunigung der Visagenehmigungen und der Erleichterung des Reisens zwischen den Drehkreuzen – wird es ermöglichen, dass mehr Hilfe schneller eintrifft.“

Die UNO fordert für Syrien 397 Millionen US-Dollar von der internationalen Gemeinschaft. Fünf Millionen Menschen seien auf diese Summe für ihr Überleben in den kommenden drei Monaten dringend angewiesen, sagte Guterres. Die UNO bereite derzeit einen ähnlichen Spendenaufruf für die Türkei vor.

Der syrische Machthaber hofft auf internationale Hilfe beim Wiederaufbau des Landes. Assad habe in einem Gespräch mit Griffiths „die Bedeutung internationaler Bemühungen“ hinsichtlich der Hilfe bei der „Wiederherstellung der Infrastruktur in Syrien“ betont, hieß es in einer von der syrischen Präsidentschaft veröffentlichten Erklärung.

Erste UNO-Delegation in Syrien

Inzwischen traf auch die erste UNO-Delegation in dem von oppositionellen Milizen kontrollierten Katastrophengebiet im Nordwesten Syriens ein. Die UNO-Vertreter hätten „heute Früh von der türkischen Seite aus den Grenzübergang überquert“, sagte der Direktor des Welternährungsprogramms für Syrien, Kenn Crossley, am Dienstag der Nachrichtenagentur AFP. Es handle sich primär um eine Bewertungsmission, die die Bedürfnisse in der hart getroffenen Region evaluieren soll, sagte Crossley.

Aktivisten und Nothilfeteams im Nordwesten Syriens hatten die langsame Reaktion der UNO auf das Beben in den Rebellengebeten kritisiert. In den von der Regierung kontrollierten Gebieten traf die Hilfe auf dem Luftweg hingegen weitaus früher ein. Griffiths hatte bereits eingeräumt, dass die UNO „die Menschen im Nordwesten Syriens bisher allein gelassen“ habe.