Chagos Inseln
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Immer noch Kolonie

Diego Garcias düstere Geschichte

Diego Garcia, die Hauptinsel des Chagos-Archipels im Indischen Ozean, sieht auf den ersten Blick aus wie ein Paradies, doch der Schein trügt gewaltig. Die Inselgruppe wurde von der Dekolonisierung ausgespart und unter britischer Verwaltung belassen, schließlich an die US-Regierung verpachtet. Um Platz für einen Militärstützpunkt zu schaffen, wurden zwischen 1968 und 1973 alle Einheimischen zwangsumgesiedelt. Jahrzehntelang ignoriert, kam zuletzt Bewegung in die Frage um Entschädigungen und die Zukunft des Archipels.

Mitte der 1960er Jahre entließ Großbritannien seine verbliebenen Kolonien reihum in die Unabhängigkeit – um gleichzeitig eine neue zu schaffen. 1965 gliederten die Kolonialherren den 58 abgelegene Inseln umfassenden Chagos-Archipel aus der Verwaltung von Mauritius aus, damit er bei der bevorstehenden Unabhängigkeit des Landes im Jahre 1968 bei Großbritannien verbleiben konnte. Unter dem Namen „British Indian Ocean Territory“ fungiert er seitdem als letzte britische Kolonie in Afrika.

Hinter dem Kalkül steckte der Kalte Krieg: Washington war auf der Suche nach einer geeigneten Basis im Indischen Ozean. Das entlegene Atoll Diego Garcia kam da zupass, mit den Briten wurde ein Deal für die Nutzungsrechte ausverhandelt und schließlich ein stategisch wichtiger Militärstützpunkt errichtet. Bedeutung behielt er auch lange nach dem Kalten Krieg noch: Hier starteten Flugzeuge, die nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 Afghanistan bombardierten und später im Golfkrieg im Einsatz waren. 2008 gaben die USA zu, dass die CIA auf Diego Garcia Verhöre vorgenommen habe. Auch für die US-U-Boot-Flotte gilt das Atoll als wichtige Versorgungsstation.

Militärbasis am Diego Garcia Atoll
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Die Lage zwischen Afrika, Australien, Indien und der Arabischen Halbinsel machte die Insel für die USA strategisch interessant

Deportation von Tausenden Menschen

Die Bewohner und Bewohnerinnen von Diego Garcia seien aufgrund ihrer Herkunft als Nachfahren von Plantagenarbeitern einfach als „Kontraktarbeiter“ eingestuft worden, die kein offizielles Recht besäßen, sich auf der Insel aufzuhalten, schrieb US-Autor Daniel Smith in seinem Buch „Die 100 geheimsten Orte der Welt“: „Von den Briten erfuhren sie, ihr Aufenthalt auf der Insel sei illegal, wenn sie keine Papiere vorlegen könnten, die ihr angestammtes Aufenthaltsrecht belegten. Natürlich gab es solche Papiere nicht. Die Briten begannen daraufhin mit der Zwangsumsiedelung der Insulaner.“

Die rund 2.000 Einheimischen auf den Inseln wurden „in den Bäuchen alter Kähne verschifft, die ansonsten Vogelkot als Dünger transportierten“, wie die „Süddeutsche Zeitung“ („SZ“) unlängst schrieb. Man brachte sie auf die Seychellen und nach Mauritius und überließ sie dort ihrem Schicksal in Armut. Die Vertriebenen hatten weder eine formale Ausbildung noch Geld.

Langer Kampf um Entschädigung

Die Chagossianer begannen schon bald mit Protesten gegen die Maßnahmen, die ihnen ihr Land geraubt hatten, und tatsächlich wurden einige von ihnen, die mittlerweile auf Mauritius lebten, Jahre später mit kleinen Entschädigungen abgespeist. Aus Sicht der wechselnden britischen Regierungen handelte es sich um eine „faire Kompensation“, aus Sicht der Chagos Refugee Group mit Sitz in Port Louis, der Hauptstadt von Mauritius, keinesfalls.

Gerichtsurteile in Großbritannien, die zugunsten der Vertriebenen ausfielen, wurden mit einem selten genutzten Dekret im Namen der Königin aufgehoben, wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ („FAZ“) berichtete. Die britische Regierung argumentierte so, dass sie eine Rückkehr als nicht vereinbar mit „Frieden, Ordnung und guter Verwaltung“ des Territoriums ansah. Studien zufolge wäre eine Neuansiedelung teuer und riskant für die Bewohner und Bewohnerinnen, nicht zuletzt wegen des Klimawandels und eines steigenden Meeresspiegels.

Dabei leben auf Diego Garcia derzeit nicht nur die Beschäftigten auf der Militärbasis, sondern auch Menschen aus Mauritius, den Malediven, den Philippinen und Sri Lanka, die sich als Köchinnen und Köche und Putzkräfte verdingen. Chagossianerinnen und Chagossianer dagegen dürfen bis heute nicht auf den Inseln leben. Als Zeichen des Protests hat die Regierung in Port Louis aber im vergangenen Jahr mehrfach Expeditionen ehemaliger Bewohnerinnen und Bewohner von Diego Garcia in ihre frühere Heimat organisiert – von längerer Dauer waren sie jedoch nie.

Chagos Inseln
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Diego Garcia ist das größte Atoll des Chagos-Archipels, des letzten verbliebenen Teils des „British Indian Ocean Territory“

UNO beanstandet „koloniale Verwaltung“

Der Anspruch Großbritanniens auf die Inseln wird aber zunehmend schwieriger aufrechtzuerhalten. Der Internationale Gerichtshof (IGH) erklärte 2019 den Anspruch Großbritanniens auf die Inselgruppe als rechtswidrig und die Weiterverwendung der Inselgruppe durch das britische und US-amerikanische Militär als ein Relikt des Kolonialismus. Eine nachfolgende Resolution der UNO-Generalversammlung, die mit einer großen Mehrheit verabschiedet wurde, forderte, dass Großbritannien seine „koloniale Verwaltung“ von den Inseln bis Ende 2019 zurückzieht.

Im Jahr 2021 bestätigte der Internationale Seegerichtshof (ISGH) die Souveränität von Mauritius über den Chagos-Archipel und kritisierte die Nichteinhaltung der UNO-Resolution von 2019 durch Großbritannien und die USA. Die UNO hat ihre offizielle Weltkarte geändert, seit 2020 wird das Archipel als unbestrittener Teil von Mauritius verzeichnet. In einem symbolischen Schritt verfügte die UNO-Postagentur, dass Briefe von den Inseln nicht mehr mit britischen Briefmarken frankiert werden dürfen.

Erst diesen Februar veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) einen Bericht, in dem sie Großbritannien und den USA Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegenüber den Chagossianern vorwirft. Die „rassistische Verfolgung und die fortgesetzte Blockade ihrer Rückkehr in die Heimat“ stelle ein „fortgesetztes koloniales Verbrechen“ dar. Beide Länder sollten den früheren Bewohnerinnen und Bewohnern der Inselgruppe eine Entschädigung zukommen lassen und ihnen die Rückkehr in ihre Heimat ermöglichen.

Blick vom Space Shuttle auf das Diego Garcia Atoll
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Das Atoll wird mitunter auch als „unsinkbarer Flugzeugträger“ der USA bezeichnet

Kleiner Fleck mit großer geopolitischer Bedeutung

Schon davor kam Bewegung in die Debatte: Im November des Vorjahres signalisierte die Regierung in London erstmals Gesprächsbereitschaft über die Souveränität der Inseln, im Jänner nahmen London und Mauritius Gespräche auf. Die Beratungen sind geheim, wie der „Economist“ schrieb, aber es stünde zu erwarten, dass Großbritannien seinen Anspruch auf das Archipel aufgibt. Mauritius habe Zusicherungen für den „ungehinderten Betrieb“ des US-Stützpunktes und einen neuen 99-jährigen Pachtvertrag angeboten. Großbritannien selbst könnte eine militärische Präsenz auf Diego Garcia aufrechterhalten, bis sein derzeitiger Pachtvertrag mit den Amerikanern im Jahr 2036 ausläuft.

So klein das Archipel sein mag, so groß scheint seine geopolitische Bedeutung: Für die USA ist es nach wie vor der einzige maßgebliche Posten im Indischen Ozean. In Indien wurden indessen Sorgen laut, dass Mauritius die Chagos-Inseln künftig auch für Peking öffnen könnte, etwa um mit einem solchen Deal einen Teil chinesischer Schulden loszuwerden. Und auch im Ukraine-Krieg mischt das vermeintliche Inselparadies indirekt mit: Als britische Diplomaten und Diplomatinnen versuchten, für Unterstützung um die Ukraine zu werben, sollen afrikanische Staats- und Regierungschefs gefragt haben, woher Großbritannien das Recht nehme, russische Streitkräfte vertreiben zu wollen, während es die Chagos-Inseln illegal besetzt hält.