Dutzende thailändische Studenten
IMAGO/Pacific Press Agency/Teera Noisakran
Haarschnitt als Strafe

Thailands Jugend im Kampf mit dem System

Demütigungen und harte Strafen gehören zum Schulalltag von Thailands Kindern. Dazu zählt das Haareschneiden in der Öffentlichkeit. Die britische Zeitung „Guardian“ berichtet von einem Fall, bei dem ein Lehrer 100 Schülerinnen und Schüler gewaltsam schor. Das Bildungsministerium beschwichtigt, die Jugend ist empört.

Auf Social Media kursieren dem „Guardian“ zufolge Videos und Berichte, die den Lehrer zeigen, wie er den Schülerinnen und Schülern an einer öffentlichen Schule in der Provinz Phetchabun die Haare schneidet, weil sie gegen die vorgeschriebenen Frisurenregeln verstoßen haben sollen. Zu sehen seien mindestens 100 in einer Reihe neben dem Fahnenmast der Schule sitzende Kinder, deren Haarbüschel durch die Hand des Lehrers auf dem Boden landen.

Seit Jahrzehnten müssen Schülerinnen und Schüler in Thailand strenge Disziplinarmaßnahmen über sich ergehen lassen. Doch der Widerstand gegen ein System, das sie mehr zu gefügigen Untertaninnen und Untertanen als zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern machen soll, wächst. Das Bildungsministerium reagierte und lockerte im Jänner die Vorschriften. Nun sollen die Schulen weitgehend ihre eigenen Richtlinien entwickeln können, hieß es.

Demütigung als Alltag

Gegnerinnen und Gegner lehnen das jedoch ab. Sie sehen damit erst recht der Willkür Tür und Tor geöffnet. Die neue Regel sei zu vage und bringe wahrscheinlich keine Änderung, zitiert der „Guardian“ die Gegenseite. „Das Ergebnis ist, dass es den Schulen die volle Freiheit gibt, und die Schulen alles ohne Konsequenzen tun können“, sagte Laponpat Wangpaisit von der Gruppe „Schlechte Schüler“, die sich für Reformen des Schulsystems einsetzt.

Die demütigende Praxis des Strafhaareschneidens würde nach wie vor zum Alltag gehören, so Wangpaisit. Seinen Angaben zufolge werden seiner Organisation drei bis vier Fälle pro Woche gemeldet, bei denen Lehrer Schülerinnen und Schülern gegen deren Willen die Haare schneiden. Die Meldungen würden sich zu Beginn des Monats und zu Semesterbeginn häufen, wenn Inspektionen an den Schulen durchgeführt werden.

Bildungsministerin Trinuch Thienthong bezeichnete das gewaltsame Scheren der 100 Kinder zwar als unangemessen, sprach dem Lehrer aber auch gute Absichten zu. Eine Untersuchung des Vorfalls sei angeordnet worden. Lehrer dürften keine Strafen verhängen, die demütigend sind. „Nirgendwo im Regelwerk gibt es eine Bestimmung, die es dem Lehrer erlaubt, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und Schülern selbst die Haare zu schneiden“, so die Ministerin.

Vorschriften aus 1970er Jahren

Die thailändischen Haarschnittregeln gehen auf die Militärdiktatur in den 1970er Jahren zurück. Jahrzehntelang wurden Schüler und Studenten angewiesen, einen Bürstenschnitt im Armeestil beizubehalten, während Schülerinnen und Studentinnen ihr Haar nicht länger als bis zu den Ohrläppchen tragen durften. Die Regeln wurden 2020 aufgeweicht, obwohl Studenten ihre Haare nicht über den Nackenansatz hinaus tragen durften und Dauerwellen, Färbemittel, Schnurrbärte oder Bärte weiterhin verboten waren.

Schülerinnen und Studentinnen durften ihr Haar länger halten, wenn sie es zusammenbanden oder eine Spange trugen. Einige lokale thailändische Nachrichtenberichte deuteten darauf hin, dass Studentinnen langes Haar nur nach vorheriger Genehmigung der Behörden tragen durften. In den letzten Jahren haben Schüler zunehmend gegen solche Regeln gekämpft, die sie als Symbol für ein Schulsystem sehen, das Gehorsam über Individualität und militärische Einflussnahme stellt.

Es geht um Menschenwürde

„Wir müssen alle Regeln für Frisuren ein für alle Mal eliminieren“, zitierte der „Guardian“ Wangpaisit, der hinzufügte, dass Haare keinen Einfluss auf das Lernen haben. „Es geht um die Würde, ein Mensch zu sein – dass wir alle Rechte über unseren eigenen Körper haben und das nur ein Anfang für alles andere ist, wie Meinungsfreiheit, Menschenrechte und so weiter“, sagte der Aktivist.

Die ehemalige Abgeordnete der aufgelösten Oppositionspartei Future Forward, Kunthida Rungruengkiat, sagte, dass es bei der älteren Generation die Haltung gebe, dass eine solche Politik notwendig sei, um Disziplin zu schaffen. „Ihre grundlegende Überzeugung ist, dass man bestimmte Regeln befolgen muss, um ein ‚guter Thai‘ zu werden und sich in die Gesellschaft integrieren zu können.“ Rungruengkiat sagte, dass Veränderungen überfällig seien.

Bildung bleibt auf der Strecke

Thunhavich Thitiratsakul, ein Bildungspolitiker am Thailand Development Research Institute, sagte zur jüngsten Regel für mehr Autonomie, dass den Schulen zwar gesagt worden sei, sie sollten sich bei der Entwicklung einer Haarschnittpolitik mit Schülern und Eltern beraten, doch dass das in Wirklichkeit möglicherweise nicht genug geschehe. „Nicht jede Schulbehörde funktioniert, wie sie sollte“, sagte Thitiratsakul.

Tatsächlich herrschen an Thailands Schulen strenge Vorschriften. Neben der Pflicht, Schuluniform zu tragen, gibt es detaillierte Angaben dazu, welche Schuhe, Socken und sonstigen Accessoires dazu angezogen werden dürfen. Jeden Morgen müssen sich die Kinder versammeln und zur Nationalhymne strammstehen. Wer dem Lehrpersonal widerspricht, muss sogar mit Prügel rechnen.

Zwar steckt die Regierung viel Geld ins Erziehungswesen. Was dabei herauskommt, ist aber oft enttäuschend. Im internationalen Vergleich stehen die thailändischen Schülerinnen und Schüler schlecht da. Seit Jahren nimmt das Leseverständnis ab, ebenso die Englischkenntnisse. Gleiches gilt für die Ergebnisse in den jährlichen Pisa-Studien.