Frau geht entlang einer Straße voller Zerstörung in Butscha
AP/Rodrigo Abd
Ukraine

Ein Jahr im Bann des Krieges

„Ich habe die Entscheidung für eine Militäroperation getroffen.“ Mit diesen Worten startete der russische Präsident Wladimir Putin in der Nacht auf den 24. Februar 2022 den Angriff auf die Ukraine – und damit den größten Krieg in Europa seit 1945. Doch der vom Kreml erhoffte Blitzsieg wurde es nicht: Vom Westen unterstützt, entpuppte sich die Ukraine als zumindest ebenbürtiger Gegner. Nun, ein Jahr voller Wendungen an den Fronten später, sind die Auswirkungen des Krieges weiter omnipräsent – und die Zukunft völlig unklar.

Krisendiplomatie kurz vor Kriegsbeginn, Warnungen und Appelle, das alles hatte nichts gebracht: Kurz nach Putins Fernsehansprache fielen russische Truppen in der Ukraine ein, der Beschuss von mehreren Städten begann. International wurde der Angriff scharf kritisiert. Der Schock saß dennoch tief: In der westlichen Öffentlichkeit hatten viele einen Krieg im Jahr 2022 nicht für möglich gehalten.

Und noch eine andere weit verbreitete Annahme erwies sich als falsch: Die auch von vielen, wenn auch nicht allen Experten als übermächtig eingeschätzte russische Armee scheiterte mit dem Versuch eines Blitzkrieges. Heute weiß man: Russland versuchte mit Truppen am Flughafen Hostomel zu landen, um von dort aus Fallschirmjäger in die Hauptstadt Kiew zu schicken, um Präsidenten Wolodymyr Selenskyj gefangen zu nehmen. Doch der Plan schlug fehl: Russische Spezialeinheiten wurden auf und nahe dem Flughafen von ukrainischen Truppen vernichtend geschlagen.

Wehrhafte Ukraine

Präsident Selenskyj tauschte Anzug gegen Militärkleidung, wurde über Nacht zum militärischen Führer und sprach seitdem der ukrainischen Bevölkerung jeden Abend in einer Videobotschaft Mut zu – und forderte gleichzeitig vom Westen Unterstützung.

Schon in den ersten Tagen des Krieges entstanden Bilder, die über soziale Netzwerke verteilt vor allem die westliche Wahrnehmung prägten: Menschen, die sich gegen russische Panzer stellten, Zivilbevölkerung, die in den Straßen Molotowcocktails gegen den Aggressor herstellte. Gleichzeitig begann eine beispiellose Fluchtwelle. Millionen Menschen flüchteten aus der Ukraine – vor allem Frauen und Kinder, da wehrfähigen Männern mit wenigen Ausnahmen die Ausreise untersagt wurde.

Konvoi als Symbol der Schwäche

Russland bombardierte Kiew und vor allem die östliche Stadt Charkiw und konnte auch schnell Erfolge verbuchen. Cherson im Süden wurde ebenso eingenommen wie Melitopol. Aber auch erste Zweifel an der russischen Stärke wurden bald laut: Schon am 28. Februar war auf Satellitenbildern ein Dutzende Kilometer langer Militärkonvoi zu sehen, der sich vom Norden aus Richtung Hauptstadt Kiew schlängelte.

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Zerstörtes Wohngebäude nach Einschlag einer Rakete in Kiew
Reuters/Gleb Garanich
Zerstörtes Wohngebäude nach dem Einschlag einer Rakete in Kiew in den ersten Kriegstagen
Ukrainischer Präsident Wolodymyr Selenski
Reuters/Ukrainian Presidential Press Service
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mit Beratern bei einer seiner ersten abendlichen Videobotschaften
Ukrainer basteln Molotov-Cocktails
AP/Efrem Lukatsky
In den Straßen von Kiew bauten Zivilisten Molotowcocktails
Flüchtlinge nach dem Überqueren der Grenze zu Polen
Reuters/Fabrizio Bensch
Zehntausende – vor allem Frauen und Kinder – ergriffen schon in den ersten Kriegstagen die Flucht. Die meisten passierten die Grenze nach Polen.
Demonstrant wird von Polizisten abgeführt am Manezhnaya Square in Moskau
APA/AFP
In Russland wurden Proteste gegen den Krieg gleich an den ersten Tagen mit harter Hand unterdrückt
Frau mit einem „No War“-Banner hinter einer Moderatorin
EBU/RUC1R
Die russischen Staatsmedien folgen seit Beginn des Krieges der Kreml-Propaganda: Die Moderatorin Marina Owsjannikowa sorgte für einen seltenen Augenblick
Satellitenaufnahme eines russischen Militärkonvois in der Ukraine
Reuters/Maxar Technologies
Satellitenaufnahme des kilometerlangen russischen Militärkonvois in der Ukraine: Über Tage gab es kein Vorankommen – dann löste er sich auf

Doch Tag um Tag verging, ohne dass ein Fortschritt zu sehen war. Zwei Wochen später hatte sich der Konvoi aufgelöst – und eine der Schwachstellen der russischen Armee war offenbar: schwere Probleme bei Kommandostrukturen, Logistik und Nachschubrouten.

In Russland präsentierte Putin seinen Angriffskrieg als „militärische Spezialoperation“, um die Ukrainer zu „entnazifizieren“. Zensurgesetze wurden verschärft, Proteste gegen den Krieg im Keim erstickt. Zehntausende Russinnen und Russen, wie viele genau weiß niemand, verließen aus Angst das Land.

Belastung für die ganze Welt

Hektisches Treiben herrschte auf dem internationalen politischen und diplomatischen Parkett: Binnen weniger Wochen schnürte etwa die EU vier Sanktionspakete gegen Russland. Zahlreiche Firmen schlossen sich dem Boykott an und stellten ihre Geschäfte in Russland ein. Moskau wiederum drohte mit einem Stopp an Gaslieferungen – eine Drohung, die das Land Wochen später auch teilweise umsetzen sollte.

Und schon nach kurzer Zeit hinterließ der Krieg riesige wirtschaftliche Spuren – nicht nur in Russland, sondern auf dem Weltmarkt. Die Preise für Energie stiegen enorm – und auch für Getreide, nachdem der Großexporteur Ukraine seine Ernten nicht mehr verschiffen konnte. Weite Teile der Welt, allen voran Europa, kämpfen nun gegen eine in dieser Höhe schon seit Jahrzehnten nie da gewesene Inflation.

Start der russischen Angriffe

Am 24. Februar 2022 sind die ersten russischen Truppen in die Ukraine einmarschiert. Millionen Menschen mussten aus der Ukraine flüchten.

Massaker in Butscha stoppte Verhandlungen

Die schon Ende Februar gestarteten Friedensverhandlungen starteten schleppend, zunächst in Belarus, anschließend in der Türkei konnte keine Annäherung erreicht werden. Die Gespräche endeten Anfang April: Die russischen Truppen hatten den Versuch, Kiew einzukesseln, endgültig abgebrochen – und nach ihrem Abzug aus dem Norden der Hauptstadt bot sich ein schreckliches Bild. In Butscha und anderen Orten wurden Hunderte Leichen von Zivilistinnen und Zivilisten gefunden, teils in Massengräbern verscharrt, teils auf offener Straße liegend.

Mariupol als Symbol der Zerstörung

Auch eine zweite Stadt wurde später zum Symbol für die Gräuel des Kriegs: Die südostukrainische Hafenstadt Mariupol wurde von russischen Truppen von Beginn an beschossen. Ein Theater, in dessen Keller sich wohl Hunderte Menschen versteckten, wurde bombardiert. Mehrere Wochen tobte noch ein Kampf um das Stahlwerk Asow-Stahl, in dem sich ukrainische Kämpfer, darunter hauptsächliche Mitglieder des ultrarechten Regiments Asow, verschanzten, ehe auch sie aufgaben. Zehntausende flüchteten aus der einstigen 400.000-Einwohner-Stadt. Unzählige wurden – mit oder gegen ihren Willen – nach Russland gebracht. Und wie viele Tausende Menschen in der Stadt starben, ist bis heute unklar.

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Ukrainische Soldaten in Butscha
Reuters/Alkis Konstantinidis
In Butscha und anderen Orten nördlich von Kiew wurden Anfang April nach Abzug der russischen Truppen Hunderte Leichen gefunden
Luftaufnahme vom zerstörten Theater in Mariupol
Reuters/Pavel Klimov
Das zerbombte Theater von Mariupol
Stahlwerk in Mariupol unter Beschuss
Reuters
Wochenlang wurde das riesige Asow-Stahlwerk beschossen
Zerstörtes Wohnhaus in Mariupol
Reuters/Alexander Ermochenko
Die Stadt Mariupol gleicht einer einzigen Ruine – hier ein ehemaliges Wohnhaus

Militärische Rückschläge für Russland

Für Russland war die Einnahme vor allem ein symbolischer Erfolg – denn gleichzeitig gab es herbe Schlappen: Mitte April wurde die „Moskwa“, das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte, durch Raketentreffer versenkt. Mitte Mai endete ein Querungsversuch des Flusses Siwerskyj Donez in einem Desaster. Die Kritik an der Militärführung wurde vor allem seitens der einflussreichen russischen Militärblogger immer lauter. Es dauerte auch Wochen, bis die russische Armee die Zwillingsstädte Sjewjerodonezk und Lyssytschansk in Luhansk im Juli endlich einnehmen konnte.

Kriegshandlungen in der Ukraine (und auf der Krim, die 2014 von Russland annektiert wurde) von 24.2.2022 bis 10.2.2023 laut Konfliktbeobachtungsstelle ACLED nach Art der Gefechte

Für internationale Besorgnis sorgten immer wieder die Gefechte rund um das von russischen Truppen eingenommene Atomkraftwerk Saporischschja. Immerhin durfte die Internationale Atomenergieorgansiation (IAEA) das Gelände immer wieder begutachten. Und ein kleiner diplomatischer Erfolg konnte im Sommer erreicht werden. Auf Vermittlung der Türkei wurde unter Schirmherrschaft der UNO ermöglicht, dass Schiffe mit Getreide ukrainische Häfen verlassen dürfen – was zu leichter Entspannung auf dem Weltmarkt führte.

Ukraine in der Gegenoffensive

Auf dem Schlachtfeld begann sich spätestens im August das Blatt zu wenden: Die Ukraine deutete eine Offensive in der südlichen Region Cherson an, woraufhin Russland dort seine Truppen verstärkte. Völlig überraschend startete die Ukraine aber – unterstützt durch westliche Waffen, vor allem aber militärische Aufklärung – dann eine Gegenoffensive im Osten im Raum Charkiw. Die russische Verteidigungslinie brach zusammen, die Ukraine konnte in wenigen Tagen erhebliche Gewinne erzielen.

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Zerstörte Militärfahrzeuge und Pontonbrücken am ukrainischen Fluss Siwerskyj Donez
AP/Ukrainian Presidential Press Office
Beim Versuch, den Fluss Siwerskyj Donez zu überqueren, erlitten die russischen Truppen herbe Verluste
Russischer Soldat vor dem AKW Saporischschja
APA/AFP/Andrey Borodulin
Rund um das von Russland besetzte AKW Saporischschja tobten immer wieder Kämpfe
Rauchschwaden über der ukrainischen Stadt Sjewjerodonezk
APA/AFP/Aris Messinis
Wochenlang wurde die Stadt Sjewjerodonezk beschossen, ehe Russland sie einnehmen konnte
der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mit Soldaten in Isjum
AP/Leo Correa
Mit einer Gegenoffensive im Raum Charkiw eroberte die Ukraine einige Städte zurück. Hier Selenskyj auf Frontbesuch in Isjum.
Menschen begrüßen Selenskyj in Cherson
AP/Ukrainian Presidential Press Office
Jubel in Cherson nach der Befreiung
Zerstörte Brücke bei Kerch auf der Krim
IMAGO/TASS/Moya Feodosiya
Explosion an der Krim-Brücke

Cherson zurückerobert

Putin reagierte im Dezember mit der Ausrufung einer Teilmobilmachung, Zehntausende neue Soldaten sollten das Ruder herumreißen. Gleichzeitig stockte auch die Söldnergruppe Wagner von Jewgeni Prigoschin auf: Zu der bestehenden Truppe an Elitesoldaten wurden aus russischen Gefängnissen Häftlinge rekrutiert, die schlecht ausgebildet an die vorderste Front geschickt wurden.

Doch das Heft hatte weiter die Ukraine in der Hand: Am 8. Oktober, einen Tag nach Putins Geburtstag, detonierten Bomben an seinem Prestigeprojekt, der Krim-Brücke. Im November schließlich mussten sich die russischen Truppen nach Vorstößen der Ukraine in der Region Cherson hinter den Fluss Dnipro zurückziehen – auch die gleichnamige Hauptstadt wurde befreit.

Kriegshandlungen in und um Odessa und Cherson von 24.2.2022 bis 10.2.2023 laut Konfliktbeobachtungsstelle ACLED nach Art der Gefechte im zeitlichen Verlauf. Zum Abspielen der Animation blauen Knopf links drücken.

Raketen auf Infrastruktur

Schon zuvor hatte Russland mit einer neuen Militärspitze seine Strategie geändert: Mit Raketen und Drohnen wurde die Strominfrastruktur des Landes systematisch beschossen. Zwar konnte die Ukraine im Laufe der Zeit mehr dieser Angriffe abwehren, die Schäden waren dennoch enorm.

Seit mehreren Monaten konzentrieren sich nun die Kämpfe am Boden auf Bachmut in Donezk. Die komplett zerstörte Stadt konnte anders als der auch lang umkämpfte Vorort Soledar noch nicht von den Russen eingenommen werden. Die strategische Bedeutung der Stadt ist vernachlässigbar – doch durch die Dauer der Kämpfe und die vielen Toten dabei ist sie für beide Seiten symbolisch wichtig.

Erwartet wird, dass der seit Monaten geführte Stellungs- und Abnützungskrieg weitergeht, beide Seiten aber im Frühjahr mit neuen Offensiven Landgewinne erzielen wollen. International standen die politischen Debatten vor allem im Zeichen von zusätzlichen Waffenlieferungen an die Ukraine, allen voran Panzerlieferungen wurden diskutiert – die Umsetzung schleppt sich bisher.

Kein Plan für Frieden

Ein Frieden ist nicht in Sicht – vor allem weil praktisch alle bisherigen Friedenspläne vorsahen, dass die Ukraine zumindest ein Stück ihres Territoriums an Russland abtritt. Das ist nicht nur aus ukrainischer Sicht undenkbar: Russland würde für seinen Angriffskrieg auch noch „belohnt“ und könnte – so die Furcht – weitere Länder nach dem Vorbild des Ukraine-Angriffs attackieren. Zehntausende Fälle von Kriegsverbrechen wirft die Ukraine Russland vor, zumindest die schrecklichsten davon werden bereits von internationalen Organisationen untersucht.

Auch wie die internationale Politik wieder gekittet werden kann, ist unklar: Expertinnen und Experten glauben, dass das bestenfalls in einer Zeit nach Putin möglich ist. Und sinnbildlich für die in Brüche gegangene wirtschaftliche Kooperation ist die Pipeline „Nord Stream 1“, die nach ungeklärten Explosionen im September schwer beschädigt wurde. Doch ein Jahr Krieg hinterlässt vor allem Zehntausende Tote, wie viel genau weiß niemand, ein in Schutt und Asche gelegtes Land und unendliches Leid und Traumata.